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„Ja gewiß“, versicherte Rico mit ernstem Gesicht, „und manchmal träumt es mir auch davon und ich sehe so große, rote Blumen daran und drüben die violetten Berge.“

„Ach, das gilt nicht, was es einem träumt“, sagte Stineli lebhaft; „es hat mir auch einmal geträumt, der Peterli kletterte ganz allein auf die allerhöchste Tanne hinauf, und wie er auf dem obersten Zweiglein saß, da war’s nur noch ein Vogel, und er rief herunter: ‚Stineli, zieh mir die Strümpf’ an.‘ Jetzt siehst du doch, daß das nichts sein kann.“

Rico mußte stark nachdenken, wie das sei, denn sein Traum konnte doch sein und war nur wie etwas, das ihm wieder in den Sinn kam. Aber jetzt waren sie nahe beim Schulhaus angelangt und ein ganzer Trupp Kinder lärmte von der anderen Seite daher. Sie traten alle miteinander ein, und bald nachher kam auch der Lehrer. Der war ein alter Mann mit dünnen, grauen Haaren, denn er war schon undenklich lang Lehrer gewesen, so daß ihm darüber die Haare grau geworden und ausgefallen waren. Es ging nun an ein strenges Buchstabieren und Syllabieren, dann kam das Einmaleins an die Reihe und zuletzt kam der Gesang. Da holte der Lehrer seine alte Geige hervor und stimmte sie, und nun ging es an und alle sangen aus voller Kehle:

„Ihr Schäflein hinunter
Von sonniger Höh’“,

und der Lehrer geigte dazu.

Nun schaute aber der Rico so gespannt auf die Geige und des Lehrers Finger, wie dieser die Saiten griff, daß Rico darüber ganz das Singen vergaß und keinen Ton

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Johanna Spyri: Heimatlos. Gotha 1878, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Heimatlos_(Spyri)_011.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)