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sich selbst schwur, die Schöne sey während ihrer Abwesenheit nur immer schöner geworden. Schon von weitem rief die gute Frau dem liebenswürdigsten Mädchen Gruß und Lob zu. Welch ein Glück Euch anzusehen, welch einen Himmel verbreitet Eure Gegenwart um Euch her! Wie die Harfe so reizend in Eurem Schoose lehnt, wie Eure Arme sie so sanft umgeben, wie sie sich nach Eurer Brust zu sehnen scheint und wie sie unter der Berührung Eurer schlanken Finger so zärtlich klingt! Dreyfach glücklicher Jüngling, der du ihren Platz einnehmen konntest!

Unter diesen Worten war sie näher gekommen; die schöne Lilie schlug die Augen auf, ließ die Hände sinken und versetzte: Betrübe mich nicht durch ein unzeitiges Lob, ich empfinde nur desto stärker mein Unglück. Sieh, hier zu meinen Füßen liegt der arme Canarienvogel todt, der sonst meine Lieder auf das angenehmste begleitete; er war gewöhnt auf meiner Harfe zu sitzen, und sorgfältig abgerichtet mich nicht zu berühren; heute, indem ich vom Schlaf erquickt, ein ruhiges Morgenlied anstimme, und mein kleiner Sänger munterer als jemals seine harmonischen Töne hören läßt, schießt ein Habicht über meinem Haupte hin; das arme kleine Thier, erschrocken, flüchtet in meinen Busen und in dem Augenblick fühl’ ich die letzten Zuckungen seines scheidenden Lebens. Zwar von meinem Blicke getroffen schleicht der Räuber dort

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Das Mährchen. Aus: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Funfzehnter Band. Stuttgart und Tübingen, Cotta’sche Buchhandlung. 1829, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Goethe_Werke_LH_15_234.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)