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Früh trat er auch zu den Vertrauten Maximilians und wurde von ihm in wichtigen staatsmännischen Sendungen verwendet. Von diesen aus ist er zu seinen historischen Werken gelangt. Seine Missionen in Ungarn, die 1515 ihren Abschluß in der Doppelehe im Hause der Habsburger und der Jagellonen fanden, haben seine Aufmerksamkeit auf den Osten gelenkt und ihm die Byzantiner und die Türkenkaiser ebenso erforschenswert gemacht, wie die des römisch-deutschen Imperiums. Seit Biondo hatte niemand mehr den Blick so gleichmäßig auf die beiden Hälften des alten Römerreichs gerichtet. Damit aber bekommen auch seine philologisch-antiquarischen Interessen einen bis dahin unerhörten Umfang. Wir sahen, in einer wie bedeutenden Editionstätigkeit er steht. Bei dieser aber nimmt er nicht bloß, was sich ihm offen bietet, er spürt Verborgenem nach, und zwar planvoll. Er hat vielleicht von allen Deutschen die klarste Empfindung davon, daß die antike historische Überlieferung ein großes Trümmerfeld sei, in dem immer aufs neue gesucht werden müsse. Immer wieder bemüht er sich über das Erhaltene hinaus zu Verlorenem vorzudringen.[1] Den vollständigen Ammian hat er zwar nicht gefunden, wohl aber die Chronik Cassiodors, und noch heute kennen wir die Ravennatischen Konsularfasten, die ihm dabei in die Hände fielen, als den Anonymus Cuspiniani.[2] Was er in der Bearbeitung dieser Quellen in seinen Consules geleistet hat, sichert ihm als philologischem Kritiker der römischen Geschichte denselben Rang, den Rhenanus für die deutsche beanspruchen darf.

Vor allem aber hat er dem spätgriechischen und byzantinischen Schrifttum seine Aufmerksamkeit zugewendet. Er ist der erste, bei dem diese Überlieferung wieder breiter in die abendländische Geschichtschreibung hineinflutet. Er hat den Zonaras doch in ganz anderem Sinne als Egnatius entdeckt und seinen Wert gewürdigt[3], und wenn es ihn auch noch nicht als Ausschreiber besserer Vorläufer erkennen konnte, so war er doch der Wahrheit nahe, wenn er den Verlust des vollständigen Cassius Dio beklagte, den er der kecken Unverschämtheit seines Exzerptors Xiphilinos Schuld gab.[4]

Für die deutsche Geschichte im besonderen ist auch ihm, wie Peutinger, die von Max eröffnete großartige Sammeltätigkeit zugute gekommen; wir hören, wie ihm der kaiserliche Befehl Bibliotheken und Archive öffnet[5], und sehen die Früchte in seinen Arbeiten. Er hat Karolingerdiplome gesehen und die Urkunden für Bamberg, er weiß Emmeram in Regensburg als historische Fundstätte ersten Ranges zu würdigen.[6] Viel hat ihm Stabius zugetragen[7],


  1. [295] 63) Caesares 41,59, wo er die verlorenen Biographien Trajans zitiert, die er aus Lampridius, Alexander Severus 48,6 kennt, vgl. 60,57, 64,20, 83,17 usw., auch seine Äußerung über Tacitus 18,55 und öfter: Utinam integer ad nos diligentissimus scriptor venisset. Charakteristisch auch Consules 96, wo er zur Suche nach einem vollständigen Dionys von Halikarnass auffordert.
  2. [295] 64) S. dazu Mommsen in M. G. Auct. antiquissimi IX, 263 ff.
  3. [295] 65) Er fand ihn mit Prokop und Diodor in Ofen, s. Consules 469. Maximilian zeigte 1514 den Fund des Zonoras in einem eigenen Schreiben Pirckheimer an und suchte ihn als Übersetzer zu gewinnen [Pirckheimeri Opera ed. Goldast 93, vgl. oben VI78]. Später galt die Hs. als verloren (s. die Einleitung von Gerbel und die Annotationea Hungers). Doch ist es wohl dieselbe, die Hieronymus Wolf 1557 herausgab. Er wird sie von Nikolaus Derschwan erhalten haben, der auch die Hs. der Austria an Bruschius gab. Über Derachwan s. CIL III, 154.
  4. [295] 66) S. Caesares 37,40. Cuspinian hat ebenso wie Irenikus auch den Suidas für historische Zwecke benutzt. S. Caesares 4,20, 38,2 u. öfter.
  5. [295] 67) Von Gerbel in der Vita hervorgehoben.
  6. [295] 68) Caesares 174 erwähnt er die diplomata fundationum monasteriorum aus der Zeit Karls d. Gr.; 261 und 262,38 für Bamberg; 218 sagt er über Emmeram: Abundat hoc coenobium et viris religione praeditis et veteribus diplomatibus et libris, quos mira custodiunt diligentia venerandi patres et doctioribus viris, si appulerint, copiam faciunt humaniterque eos tractant, hospitalitate insigni utentes, vere religiosi patres et digni, ut apud posteros quoque nomen habeant. Für Emmeram auch das Lob des Bartholinus im Hodoeporicon, s. o. Anm. 48.
  7. [295] 69) So z. B. die auf Befehl Friedrichs II. gefertigte Übersetzung des Gregor von Nyssa, De natura hominis, s. Caesares 341,59 und Briefwechsel des Beatus Rhenanus 41 ff. Die wichtigste Entdeckung des Stabius ist die Chronik Cassiodors und das Konsulverzeichnis, a. die Fundgeschichte des letzteren Consules 267 und für die Chronik Consules 477: Unicum habui Cassiodori exemplar, quod meus Stabius, homo acerrimi ingenii, mihi attulit. – Dagegen sagt Aventin in der [296] Praefatio zur Vita Henrici IV [WW. I, 605] an den Abt von St. Emmeram: Ibi reperi chronicon Hermanni comitis Veringen, consules Cassiodori, quae Ioannes Cuspinianus, praeceptor meus, vir harum rexum curiosus perscrutator, exscripsit ac ut spero, propediem, quae est hominis diligentia, publicabit. Da aber die Regensburger Hs. [jetzt clm. 14613] nach Mommsen [M. G. Auct. ant. XI, 117] unvollständiger ist als die Cuspinians, so wird wohl Stabius als Entdecker unangefochten bleiben. Das Kloster, wo er die Hss. fand, ist die Reichenau.