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dem Betrachter deutscher Vorzeit bieten[1], er hat keinen Zweifel, daß Tacitus als alter conditor Germaniae zu betrachten sei, aber das hindert ihn nicht neben Tacitus den Ligurinus zu stellen, Berosus und Hunibald, wo nur möglich, zu verwerten und durch andere ebenso fabelhafte Quellen zu ergänzen.[2] So ist auch seine Textkritik, die er nicht selten ganz im Sinne des Rhenanus an Tacitus und Ammian übt[3], nicht aus einem methodologischen Prinzip hervorgegangen, es ist eine Gelehrsamkeitsspielerei wie so vieles bei Irenikus.

In dem zweiten Buche, das von den Mores Germanorum handelt, hat diese Maßlosigkeit in bezug auf die Quellen naturgemäß weniger Unheil angerichtet. Geschadet aber hat sie Irenikus doch. Denn er hätte sich, wenn er von der „Philosophie der alten Deutschen“ zu sprechen hatte, wohl kaum den hübschen Gedanken Bebels entgehen lassen, daß diese Philosophie in den Sprichwörtern zu finden sei, wenn er nicht die gelehrten Skythen Anacharsis und Toxaris in sein germanisches Pantheon setzen könnte und nicht überdies bei Jordanes den ältesten germanischen Philosophen Zamolxes fände. Es verschlägt ihm nichts, die anderen „gelehrten Leute“, mit denen Jordanes die gotische Frühzeit ausgestattet hat, gleich zu Schriftstellern zu machen[4], man sieht hier wieder, wie verhängnisvoll auch eine echte und gute Quelle in einer phantastischen Zeit wirken konnte. Die Worte des Jordanes über Lucan: „plus storicus quam poeta“ hallen bei Irenikus wieder, er hatte ja am Ligurinus und an Celtis poetische Quellen, die er gleichfalls jeder historischen gleichsetzte.

Im übrigen aber ist dies zweite Buch nun doch der erste Versuch, systematisch das Kulturbild des alten Deutschlands mit dem des modernen zu vergleichen und die sorgfältige Disposition, die auch scheinbare Sprünge zu begründen weiß[5], hat die Schilderung in der Tat fast lückenlos gemacht. Grundgedanken des Celtis, wie der, daß die Germanen stets das frömmste Volk gewesen sein, kehren auch hier wieder, auch die sprachlichen Betrachtungen, zumal die These, daß alle echtdeutschen Worte einsilbig seien, sind damals schon humanistisches Gemeingut[6], aber in der Schilderung der geistigen Kultur der Gegenwart ist Irenikus selbständig und bedeutend. Es wollte doch etwas sagen, wenn im Jahre 1517 ein Humanist, zumal einer, der aus Reuchlins Schule kam, Luther als den antesignanus der Theologen, Hutten als den der Poeten bezeichnete, Pirckheimer und Rhenanus zusammenstellte und den Stil des Erasmus so gut zu charakterisieren verstand.[7]

Hervorgegangen ist nun freilich diese humanistische Ruhmesschau kaum aus dem bloßen Gefühl patriotischen Stolzes, wie es Wimpfeling


  1. [278] 82) Exegesis I, 2: Pomponius Mela ca. III. de Germania agens nullam regionem, vix urbem enumerat, tantum mores. Solinus hunc secutus angustissime absolvit. Contra Ptolemaeus urbes Germaniae enumerat moribus posthabitis, tamen inconcessa obscuritate fuscatas, ut capite sequenti patebit. Strabo libr. IIII et VII non totam cognovit Germaniam, vix mediam.
  2. [278] 83) Über Berosus äußert er sich Exegesis III, 4: Nec desunt doctiorum hominum sententiae, quae librum illum auctorem mentitum volunt nec esse Berosi, quibus auscultarem, nisi Manetho ac Iosephus ea paene verba Berosi allegarent. Über Hunibald III, 76: multae opinionis vir, cui non ob styli elegantiam, verum tantum propter antiquitatem libentius ausculto. Ebenso benutzt er die Chronik von Ebersheimsmünster und die Gesta Treverorum [Exegesia II, 1 u. II, 4]. Eine besondere Rolle spielen sodann Annalen des Methodius und der Hermannus, Saxonicus scriptor, der auch bei Althamer viel zitiert wird.
  3. [278] 84) Für Ammian z. B. II, 9 [zu XV, 9, 8], für Tacitus IV, 4, wo er in Germania cap. 4 aus [Germanorum] . . . magna opera herstellt magna corpora [„ut in antiquissimo codice vidi“].
  4. [278] 85) Exegesis II, 48: Longo autem praedictis ille antiquiores Comesinus, Zerita et Deceneus, scriptores natione Gotthi polluerunt, Jornande referente, quos et libro primo capitulo primo adduximus.
  5. [278] 86) Exegesis II, 13 [Übergang der Christianisierung der Germanen zu ihrer „humanitas et xenia“]: Christianitatis virtuti humanitatem Germanorum annectere volui, ut eminentissimum ac praecipuum verae religionis indicium. Nec quidquam aliud maius humanitate Christiano militi imputari potest [Anspielung auf Erasmus, Encheiridion?]. Für die Disposition des Gesamtwerkes sind die Einleitungen der einzelnen Bücher zu beachten.
  6. [278] 87) Vgl. Exegesis II, 31 mit Bebel, Commentaria epistolarum conficiendarum, Cuspinian, Caesares 327 (s. u. VII85), Beatus Rhenanus 112.
  7. [278] 88) Exegesis II, 38: quicquid ἐκ τοῦ εὐρείου Erasmi flumine producitur, genuina nota signatum est, ut quocumque vertatur, autorem haud facile mentiatur, quominus Erasmicum sonet et censeatur. Nil enim externi sapit, nil peregrini patitur . . . Stilus vero eius est tam effusus, candidus, luculentus, ita proprius, ut κατὰ ὀνοματοποιίαν quaelibet materiae verba adeo accommodet, ita cuilibet rei suam reddat dignitatem, ut ad fingendam orationi venerem nemo magis aptus, nemo promptior ipso habeatur. Aliquando surgit et tam varias iuxta rei proprietatem vultus actioni tradit, ut exiguam rem aut penitus nullam in elephanti molem exire cogat, famulante sibi eloquentia, ac ultra rei subiectae caput extendat. Tanta orationi eius αὐτοκρατία inest, ut in ea nihil excludatur, quod ullo pacto desiderari posset, nihil interseratur, quod τὴν περιω[σι]ολογίαν aut excessionem sapiant. Verum cuncta in morem cyclopaediae sequuntur, foelici rerum serie se invicem succedunt, invicem adaptant, ut una ablata squama aut fibula totius lorici ratio auferretur, subverteretur aut ad minus perfectioni sententiae derogaretur. – Für die „Aktualität“ der Exegesis ist es bezeichnend, [279] daß Irenikus hier auch schon die Ausgabe des griechischen Neuen Testaments des Erasmus anführt.