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zwingt ihn zu der Erkenntnis, die seinen Zeitgenossen so schwer wurde, daß Völker verschwinden können, wie sie gekommen sind, nicht durch ein bestimmtes Ereignis, sondern allmählich aufgehend in anderen.[1] Er ist auf diese Weise der Erkenntnis der Entstehung der neuen Völkerbünde der Franken, Alemannen und Sachsen näher gekommen als irgendein anderer, und hat in Einzelfällen, wie in der Frage nach der Herkunft der Baiern, Ergebnisse erzielt, die erst spät wiedergewonnen worden sind.

Das wäre aber nicht möglich gewesen, wenn Rhenanus nicht auch den Text seiner Quellen kritisch betrachtet hätte. Er ist davon überzeugt, daß dieser selbst bei scheinbar gut überlieferten Autoren der Heilung bedarf[2], und hat als der erste in Deutschland methodische Grundsätze für diese Heilung aufgestellt.[3] Ersichtlich macht es ihm Freude, diese Methode anzuwenden, die Besserungsvorschläge drängen sich beständig in die Darstellung der Ereignisse hinein, nicht zum Vorteil derselben – Erasmus wußte wohl, warum er den Freund im „Ciceronianus“ überging –, aber sie sind nicht selten vortrefflich, geistreich oft auch da, wo Rhenanus irrt.

Vergleichen wir seine Darstellung der Völkerwanderung mit der besten, die bis dahin in Deutschland vorhanden war, mit der des Nauklerus, so fällt auf, daß wir bei Rhenanus keine Origines der einzelnen Stämme finden. Er lehnt das ausdrücklich als nicht zu seinem Plane gehörig ab, nur bei den Franken macht er eine Ausnahme, um der hier so besonders üppigen gelehrten Fabelei entgegenzutreten.[4] Halten wir ihn dann, soweit es der verschiedene Ausgangspunkt der Darstellungen erlaubt, gegen Biondo, der zuerst eine Übersicht über die ganze Bewegung gegeben hatte, so fällt ein zweites auf: Während für Biondo die kriegerischen Ereignisse Hauptsachen sind – vor allem deshalb sieht er sich nach Ergänzungen zu Orosius um, da dieser andere Zwecke gehabt habe als Kriege zu beschreiben[5] –, treten sie bei Rhenanus stark zurück. Er hat eigentlich nur für zwei Schlachten Interesse: für den Sieg Julians bei Straßburg 357 und den Chlodwigs bei Tolbiacum 496 – dies beides aber sind Alemannenschlachten! Ebensowenig ist es ihm offenbar um die Schilderung von Persönlichkeiten zu tun. Wir erfahren nichts von den reichlichen Anekdoten Gregors von Tours über Chlodwig, kaum etwas von Alarich, und wenn Rhenanus den Brief des Sidonius aufnimmt, der eine Schilderung der Körperlichkeit Theoderichs II. enthält, so dient das nur als Beweismittel für den cultus Gothorum. Deshalb vor allem bevorzugt er in so auffallender Weise diesen Dichter und


  1. [262] 151) Res Germ. 39, 80, 94. Anfänge dieser Anschauung schon früher: Wimpfeling, Epitome c. 1: Germani quinque constant generibus, Vindelicis, quorum pars Burgundiones, non hi, qui Gallias obtinent seu apud Eduos et Ararin fluvium sedes habent, qui Germanorum coloni in ritus moresque Gallicos deformati sunt.
  2. [262] 152) Vorrede zu den Castigationes in Plinium: Enimvero tametsi quidam ex his minus sint depravati, quidam magis, errat tamen vehementer, qui ullum eius sinceritatis esse censet, ut emendationis non egeat. (Bfwechsel 357.) – Tacitusausgabe von 1533, Vorrede zu Annales XI ff., S. 129: Creditum est hactenus inter monumenta autorum, quae posteritati sors non invidit, vix quicquam superesse, quod minus sit librariorum inscitia corruptum quam P. Cornelii Taciti fragmenta annalium. In qua ego quoque semper opinione fui. Verum cum proximis mensibus flagitante compatre meo Hieronymo Frobenio vulgatam editionem conferre coepissem cum exemplari manuscripto sed recentiore, quod superioribus [263] diebus mihi dono miserat summus amicus Jacobus Spiegellius iureconsultus atque Ferdinandi Caesaris a secretis et a consilio, Matthiae Corvini illius Hungariae quondam regis sumptu descriptum olim in Italia, comperi idem propemodum Tacito accidisse, quod scriptoribus caeteris.
  3. [263] 153) Davon handelt Horawitz i. d. SBWA LXXI, 682 ff. und LXXII, 353 ff. Zu der Emendation von Ammian XVIII, 2, 15 s. CIL XIII, II, 2254.
  4. [263] 154) Res Germ. 29: Quamquam non est nostri instituti gentes ipsas describere, nam haec notitia ex Caesare, Strabone, Mela, Ptolemaeo, Plinio hiatoricisque comparanda, tamen hic, quando de Francis dicendum, committere non potui, quin de origine nobilissimae gentis longe compertiora traderem, quam a quoquam in hunc usque diem prodita sciam.
  5. [263] 155) Decades Lib. I: Orosius alium in finem, quam ut bella referret, scribens, ea sibi tum (sc. de progessu Alarici in Italiam) cognita, quo ordine sint gesta, diffusius narrare neglexit.