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Das erste Buch beginnt mit einer kurzen Erörterung über die Germania vetus. Ihre Grenzen sind Rhein, Donau und der Limes; die Stämme werden nach Tacitus aufgezählt, dem gegenüber Ptolemäus, obgleich er auf älteren Quellen beruht[1], wenig in Betracht kommt. Auch die Verfassung der freien Germanen wird nach Tacitus geschildert. Rhenanus betont, daß die Freiheit der Germanen nicht Anarchie gewesen sei; es gefällt ihm, daß den Fürsten auch bei der Volksberatung ein Oberentscheid zusteht[2], „nam vulgus raro sapit“. Die Kriegskunst haben die Germanen erst von den Römern gelernt, sie aber häufig, wieder auf Antrieb der Römer, gegen sich selbst angewandt. Zweimal drohte diesem alten Germanien das Los, römische Provinz zu werden: unter Augustus, wo Drusus seine Posten an Weser und Elbe aufstellte, unter Probus, wo der Grenzwall über den Neckar vorgeschoben wurde – unter Augustus brachte die Varusschlacht Rettung, die Neckargrenze hat Probus länger gehalten.

Hält man diese Schilderung gegen das, was sonst die Humanisten von dem Taciteischen Deutschland zu sagen wissen, so fällt auf, daß sie vollständig leidenschaftslos ist. Das Moralische wird kaum berührt, des Arminius gar nicht gedacht. Dagegen bietet die Erwähnung der bis in die Nacht dauernden Zechgelage der Germanen Rhenanus Gelegenheit, die Weihnacht (= vini nox) davon abzuleiten; daß dies ursprünglich ein heidnisches Fest ist, steht ihm fest, eine Briefstelle des Bonifatius dient zur Bekräftigung.

Es folgt eine ausführliche Beschreibung des römischen Germanien. Die Grenzen der einzelnen Verwaltungsdistrikte werden mit größter Genauigkeit angegeben, bei der Maxima Sequanorum ist sogar der „Eccenbach“ als Nordgrenze genannt, der eine Meile von Schlettstadt fließt. Wo die alten Nachrichten ihn im Stiche lassen, schließt Rhenanus aus der späteren Diözesaneinteilung, denn er weiß, daß sich diese an die römischen Verwaltungsbezirke angeschlossen hat. So geht die Beschreibung der Grenzprovinzen vom Rhein bis zur unteren Donau, ein Anhang bringt auch noch die übrigen Provinzen des Römerreichs „studiosorum gratia“ in kurzer Aufzählung.

„Daraus ergibt sich also“, sagt Rhenanus, „daß alle Provinzen an der Nordsee bei Terouanne, Doornik und Lüttich beginnend den Rhein hinauf und dann Donau-ab römisch gewesen und erst durch die seit Valentinian III. stoßweise einbrechenden Germanen in deren Botmäßigkeit übergegangen sind. Die alten Bewohner dieser Landschaften aber haben nie etwas mit den Germanen gemein gehabt, sie haben als Provinzialen die römische Sprache gelernt, wie sie die Rhäter in


  1. [260] 124) So schon S. 2: Ptolemaeus, qui post Tacitum scripsisse creditur, sed antiquioribus usus tabulis. Den Beweis dafür bringt er S. 26.
  2. [260] 125) Er liest Germania c. 11, wo jetzt praetractentur steht, pertractentur und Res Germ. 7 retract[ar]entur. Die Vertauschung der maiores und minores res, die Horawitz l. c. 3454 anmerkt, ist kaum Absicht, aber immerhin bezeichnend.