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Aber es fehlt durchaus der staatsmännische Geist, der in Macchiavellis unchristlichem Prinzipe Vergangenheit und Gegenwart durch historische Betrachtung zusammenschloß. Soll ja auch der Fürst des Erasmus vor allem durch moralische Schriften, Plutarch und Seneka und Plato, gebildet werden, während die Historiker nur mit Auswahl zu dulden sind, schon deshalb, weil dem Apostel des Weltfriedens die Historien mit ihrer Empfehlung des Kriegsruhms „irgendeines grundverruchten Heerführers, wie es Julius Cäsar, Xerxes, Alexander der Große gewesen,“ verderblicher erscheinen als Liebesgeschichten.[1]

Wenn Erasmus Historisches benutzt, so tut er es ganz im Sinne der Aufklärung, rein vom moralischen Standpunkt. Die Geschichte liefert Exempel, treffende Züge oder Worte zur Erläuterung dieses oder jenes menschlichen Zuges, aber nur so, wie es das Leben auch tut. In den Adagia des Erasmus werden die historischen Gestalten zeitlos, sie haben für ihn eine ewige Bedeutung oder gar keine.

Vollends den Lieblingsideen in der Geschichtschreibung des deutschen Humanismus steht Erasmus ganz fremd gegenüber. Auch nachdem er sich von seinen elsässischen Freunden das Wort: Germania nostra hat entwinden lassen, bleiben ihm die Fragen nach Wert und Bedeutung des deutschen Volkstums so fern, wie die Sprache des Landes, in dem er doch so viele Jahre verbrachte. Und daß die ebenso eifrig von allen deutschen Patrioten gehegte Idee von der kaiserlichen Weltherrschaft, der Erneuerung des alten Imperium Romanum bei ihm keinen Boden fand, kann die Vorrede zum Sueton lehren. Was er aber dafür als sein Ideal bot, einen Bund christlicher Fürsten, das blieb in noch nebelhafteren Umrissen, als es selbst bei Occam gewesen war. Auch die Türkenfrage beurteilte er kühler als die meisten andern.

Aber Erasmus wurde für die Deutschen ein Anreger wider Willen. Dankbare Schüler wußten später schon zu rühmen, daß er in seinem Hieronymuskommentar zu den Erklärungen des Wortes Germani eine neue, deutschen Herzen wohltuende gefügt hatte, die das Wort mit γνήσιοι gleichsetzte.[2] Wenn dann 1508 Heinrich Bebel seine Proverbia Germanica herausgab, in denen er zeigen wollte, daß auch die alten Deutschen ihre Philosophie gehabt hätten, die sich wohl mit der der griechischen Weisen messen könne, so war das wohl kaum ohne Anregung der Adagia des Erasmus geschehen, die zuerst solche Stoffe beachten gelehrt hatten.

Wie dann die ganze Geistesrichtung des Erasmus sich in einem


  1. [248] 1) Aus der Proverbiorum chilias zitiert von Usteri in den Theolog. Studien u. Kritiken LVIII, 6622.
  2. [248] 2) Beatus Rhenanus im Kommentar zur Germania des Tacitus von 1519. Daraus Andreas Althamer im Kommentar zur Germania des Tacitus (1536), p. 66.