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V.
Entdecker und Kritiker.

Am Eingang der kritischen Periode der deutschen humanistischen Geschichtschreibung stehen drei Namen: Erasmus, Hütten und Celtis. Keiner von ihnen ist eigentlich Historiker, der eine ist Theolog, der andere Publizist, der dritte Dichter, aber sie beinflussen die historischen Studien, die Auffassung und Darstellung der Geschichte, so gut wie die Philosophen im 18., die Soziologen im 19. Jahrhundert.

Stärke und Art ihrer Einwirkung sind jedoch verschieden. Erasmus steht da am entferntesten. Ja, wenn man etwas besonders Charakteristisches über den Mann sagen wollte, so könnte man es darin finden, daß kaum ein anderer Humanist an den geschichtlichen Dingen im gewöhnlichen Sinne ein so geringes Interesse genommen hat. Wir haben von ihm einige Vorreden oder empfehlende Begleitworte zu historischen Werken, zu den Ausgaben des Sueton von 1517 und des Livius von 1531, zum Kompendium Robert Gaguins und zur Chronik des Nauklerus. Bei den beiden letzten weiß er Treue und Gelehrsamkeit zu rühmen, beim Livius die Bedeutung der neugefundenen Hälfte der fünften Dekade ins Licht zu setzen und ihre Echtheit kurz, aber schlagend gegen etwaige Zweifel zu sichern, nur beim Sueton erfahren wir etwas von seiner eigenen historischen Auffassung.

Aber Erasmus hat es verschmäht, mit der Feder, die fast so geschickt wie der Stift Holbeins uns die Bildnisse fast all seiner Freunde gezeichnet hat, auch nur ein einziges Porträt der Vergangenheit – wenigstens aus der weltlichen Geschichte – zu entwerfen. Er hat es anscheinend geflissentlich vermieden, seine Ansichten von weltlichem und geistlichem Regiment, von Republik und Monarchie, vom Notrecht des Widerstandes der Unterdrückten, die so vielfach über seine Zeit hinausweisen, historisch zu unterbauen. Die dem Enkel Maximilians, Karl V., gewidmete „Unterweisung eines christlichen Fürsten“ ist ebenso bedeutsam durch ihre Hinweise auf die Aufgaben des Fürstentums als Rechts- und Kulturpfleger, wie durch ihre Abmahnungen von einer ziellosen Abenteuer-, Heirats- und Bündnispolitik.