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Camillus und Alexanders des Großen“, auf die so gern die Geschichtschreibung der Stammes- und Herrschergenealogen zurückging, von dem wirklichen Anfang der deutschen Geschichte. Nach diesen echten Gewährsmännern zeichnet er das „Antlitz Germaniens“ in der Urzeit. Es ist Tendenz in seinem Bilde. Die rauhen und barbarischen Eigenschaften überwiegen, mit den Augen des Tacitus hat er nicht gesehen, nur leise mischt sich ein Ovidischer Ton von der Herrlichkeit des Naturzustandes ein.

Nun aber die Gegenwart! Wie anders versteht Enea das Bild zu füllen als der Kolmarer Dominikaner, und wieviel weiter reicht sein Blick! Es war doch etwas Gutes dabei, daß der pfründenhungrige Kuriale vom Rhein und Tirol bis Ermeland nach Einkünften ausgespäht hatte. Sonst wüßte er wohl wenig von den Alpentälern oder von Danzig, Thorn und Riga. Aber er mußte Deutschland nicht bloß mit geldgierigen Blicken gemustert haben. Daß der Italiener die wasserreichen Strome und die hohen Dome Deutschlands bewunderte, erscheint uns natürlich. Aber wer außer Enea hätte damals gesehen, daß Breslau eine Stadt mit Ziegelbauten, Frankfurt eine mit Holzbauten sei, während in Köln gar viele Dächer mit Blei gedeckt waren? Wer wies ihm die große Silhouette Nürnbergs von Westen mit den Türmen von St. Lorenz und St. Sebald und der stolzen Kaiserburg darüber, die heute noch den Wanderer entzückt? Es gibt wenig Städte, bei denen er nicht den charakteristischen Punkt zu treffen wüßte. Wenn er Biondo nachgeahmt hat, so hat er ihn darin übertroffen.

Aber das ist nicht die Hauptsache. Nachdrücklich weist Enea darauf hin, daß es ein Neudeutschland gäbe, das weit über die Grenzen des Cäsarischen hinausgewachsen sei. Rhein, Elbe und Donau, die alten Grenzströme, fließen jetzt mitten durch Deutschland, von gallischem und sarmatischem Boden hat der Deutsche gleichmäßig gewonnen. Gent und Brügge sind Städte „gallischen Rechts“, aber deutscher Art, Brixen, Meran nicht minder. Böhmen hat slavische Sprache, aber deutsche Sitte, und auch die Oder mag nicht mehr unbestritten als Grenze Germaniens und Sarmatiens gelten.[1]

Auch den Grund dieser Veränderung gibt uns Enea an; es ist die Fruchtbarkeit des deutschen Stammes, die es ihm ermöglicht hat, sich soweit über seine alten Grenzen zu ergießen; deshalb will er den Namen der Germanen nicht wie Strabo daher ableiten, daß sie „Brüder“ der Gallier seien, sondern von germinare. Gegen diesen Gewinn konnte Enea die Klagen über den Verlust des staufischen Imperiums nichtsbedeutend finden. Dieses gehörte endgültig der Vergangenheit an;

  1. [229] 72) Vgl. Europa, cap. 24.