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vergessen gewesen war, erscheint hier erst in seinem wahren Werte, wenn er als zeitgenössischer Zeuge von bestimmter Eigenart aufgerufen und befragt wird.

Dazu kommt, daß Biondo den Begriff der historischen Quelle bedeutsam erweitert. Hier hatten die Altertumsstudien vorgearbeitet, durch die man gelernt hatte, zeitgenössische Briefe zu schätzen, Denkmäler als lebende Zeugen der Vergangenheit anzusehen. Biondo überträgt das auf die christlichen Zeiten, er weiß aus einem Brief des Hieronymus die Ergänzung der dürftigen Worte des Orosius über die Einnahme Roms von 410 zu gewinnen und gestaltet aus dem Formelbuch des Cassiodor, das bis dahin nicht viel mehr als eine Kanzleivorlage gewesen war, ein Bild Theoderichs, in dem auch wir kaum einen wichtigen Zug vermissen.

So entsteht die erste humanistische Geschichte des Mittelalters. Wir werden noch sehen, wie stark sie auf die deutsche Geschichtschreibung gewirkt hat. In Italien scheint sie weniger Anklang gefunden zu haben. Und das hat nicht nur den Grund, daß Biondo sich mit seiner gezierten Schreibweise „gar weit von dem Stil der Alten“ entfernte, wie ihm sein späterer Abbreviator, Papst Pius II., vorwarf[1], sondern es gibt eine tiefer liegende Ursache.

Wenn irgend etwas die Menschen der Renaissance verbindet, so ist es der Gedanke, einer neuen Zeit anzugehören. Das zeigt der alte, grämliche Filippo Villani ebenso gut, wenn er in seiner Aufzählung der Florentiner zwischen Claudian und Dante nur „Halbdichter“ zu nennen weiß[2], wie Bruni, wenn er in seinen Lebenserinnerungen neben der Neubelebung des Griechischen auch das Aufkommen des nationalen Kondottierentums Epoche machen läßt. Was konnte solchen Männern ein Werk geben, daß ihre eigene Zeitgeschichte als letzten Teil an eine Inclinatio imperii Romani anknüpft? So ist es vielleicht doch kein Zufall, daß Biondo für sein Werk zwar begeisterte Zustimmung aus dem unhumanistischen Mailand und dem nicht nur äußerlich gotisch bleibenden Venedig erhielt, daß aber Bruni schwieg.[3] Welch anderes Interesse hätte ihm ein Geschichtswerk erregt, das es unternommen hätte, das Italien der Gegenwart, das doch schon für Dante eine Göttin, für Petrarka eine nirgendwo vergessene Mutter gewesen war, nach seiner Entstehung zu erklären!

Es gab einen Gedanken, von dem aus man dahin gelangen konnte; wieder hatte Bruni ihn ausgesprochen: Wie die alte Roma überschattend und erdrückend auf allen Provinzen lag, so hat auch das mittelalterliche Kaisertum in Italien gewirkt. Mit seinem Niedergang

  1. [225] 29) Masius 45. Um so merkwürdiger sind Biondos Bedenken zu Beginn der 3. Dekade, wie er moderne Dinge klassisch ausdrücken könne, während der elegante Valla hier viel freier denkt (s. seine Historia Ferdinandi regis Aragoniae [Paris 1521] S. 25 f.).
  2. [225] 30) S. über Filippo Villani Voigt, Wiederbelebung II3, 387 und Burckhardt II, 492.
  3. [225] 31) Masius 33.