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Man kann Männern, die so Geschichte bauen, den historischen Sinn, der eine Art uninteressierten Wohlgefallens an der Vergangenheit ist, absprechen. Man wird dann eine andre Quelle ihrer Gedankengänge suchen müssen, und ich finde sie in dem juristischen Denken im Sinne der Scholastik. Die großen Rechtskodifikationen des hohen Mittelalters vom Dekret Gratians bis zum Sachsenspiegel haben da verhängnisvoll gewirkt. Sie wollen ebenso oft angeben, wie etwas Recht geworden ist, als was Recht ist. Sie sind ebenso erzählender als gebietender Natur. Damit wird aber eine Menge historischer Tatsachen dem Flusse der Überlieferung entrissen und dogmatisiert. Sie können nur noch tradiert und diskutiert, aber nicht mehr auf ihre Entstehung und Richtigkeit geprüft werden.

Die Geschichtsbücher dienen dieser Tradition. Der Martinus ist ein „Spiegel des Rechts in der Geschichte“, wie die Sächsische Weltchronik und „der Könige Buch“, er steht nach der ausgesprochenen Absicht des Autors selbst[1] neben den Dekretalen wie diese deutschen Chroniken neben dem Sachsenspiegel und dem Schwabenspiegel.

Nach dieser Auffassung darf keine von den großen staatlichen und kirchlichen Einrichtungen ein neues Ding sein, sie muß um so ehrwürdiger an Alter sein, je wichtiger sie dem Autor erscheint. Dachte einer deutscher als Martin, so rückte er die Einsetzung der Kurfürsten zu Karl dem Großen hinauf, so tat der Verfasser der Flores temporum[2], so Jordanus von Osnabrück und stillschweigend die Sächsische Weltchronik, wer päpstlicher gesinnt war, wie der Kölner Stadtschreiber Gotfried Hagene, zog sie zu Papst Silvester, dem legendarisch so viel verherrlichten Zeitgenossen Konstantins des Großen.[3]

Ein kleiner Fortschritt war es dann immerhin, wenn Männer, wie Jordanus von Osnabrück oder Lupold von Bebenburg, den lange gebahnten Wegen französischer und englisch-normännischer Chronistik folgend, dem Stammbaum der Institutionen einen gleich ehrwürdigen und gleich phantastischen deutscher Nation oder deutscher Sprache entgegenzusetzen suchten.[4] Diese der publizistischen Polemik entwachsenen Theorien haben hier und da einen bemerkenswerten Einfluß auf die späteren Geschichtswerke geübt, aber das System der minoritischen Geschichtsauffassung haben sie nicht erschüttert.

Wie sehr dies System dem Zeitgeist entsprach, das zeigen nicht nur die zahllosen Handschriften des Martinus und seine Übersetzung in alle Landessprachen[5], sondern auch der Umstand, daß bis zum Ende des 15. Jahrhunderts keine Versuche universalhistorischer Betrachtung bekannt sind, die sich nicht auf Vinzenz oder Martinus

  1. [220] 13) Wattenbach II, 468, dazu Schröder vor seiner Ausgabe der Kaiserchronik, M. G. Dte. Chr. I, 76.
  2. [220] 14) M. G. SS. XXIV, 226 ff.: Karolus... sedem imperialem in Romam transtulit et ius eligendi imperatorem Theutonicis acquisivit. Sunt autem principes VII.... Ein Vergleich mit der im selben Bande S. 181, 44 abgedruckten Quelle zeigt dann sogleich den juristischen Ursprung der ganzen Auffassung. S. auch Hegel zu Königshofen St. Chr. VIII, 425 A.
  3. [221] 15) Wattenbach II, 4701; dazu St. Chr. XII, 10. Das Ganze fordert zum Vergleich mit der genealogischen Geschichtskonstruktion in der griechischen Geschichte auf, doch wird man, glaube ich, den Ursprung aus juristischem Denken als charakteristischen Unterschied festhalten müssen.
  4. [221] 16) Über Ähnliches in der älteren deutschen Entwicklung s. F. G. Schultheiß, Gesch. d. dtn. Nationalgefühls 230, wo Anm. 4 auch gut hervorgehoben wird, daß nicht die Sage, sondern ihre staatsrechtlich-politische Verwendung das Neue ist.
  5. [221] 17) Weiland vor seiner Ausgabe 394. Die deutsche Übersetzung unzureichend gedruckt von A. Schulz in Herrigs Archiv f. d. Studium d. neueren Sprachen XXIII–XXV. Dazu Weiland in M. G. Dte. Chr. II, 349 ff. und über die wahrscheinlich Augsburger Herkunft der Übersetzung meine Arbeit über Meisterlin 7f.