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welche in lebender Substanz auftreten, sich gesetzmäßig zur Gestalt des Organismus orientieren; wie wenn auch den Molekülen der lebenden Substanz eine Richtkraft zukäme, welche die Moleküle fester Kristalle bei Bildung der Kristallkeime zu richten vermag, also wohl der Richtkraft der Kristallmoleküle verwandt sein muß. Zu beachten ist ferner, daß flüssig-kristallinische Substanzen, wie Oleate, Cholesterylverbindungen, Lezithin, Phrenosin, Cholin usw. Teile der lebenden Substanz sind oder sich in ihr vorfinden, ebenso quellbare Kristalle von Eiweiß, Hämoglobin usw., und daß Kolloide wie Fibrin, Gelatine, Cellulose, Horn, Chitin usw. aus sehr kleinen, den flüssigen Kristallen nahestehenden, weichen kristallinischen Fibrillen oder Mizellen bestehen[1]; sich von einheitlichen Kristallen also nur dadurch unterscheiden, daß sie heterogene (kolloidale) Gemenge mit anderen Substanzen sind.

     Vorläufig sind wir aber, wie aus dem Dargelegten hervorgeht, noch nicht einmal imstande, die Vorgänge bei flüssigen Kristallen in zuverlässiger Weise auf bekannte physikalische Kräfte und Gesetze zurückzuführen, derart, daß wir in der Lage wären, sie in gegebenem Fall genau vorauszuberechnen. Es wird also zunächst nötig sein, die Tatsachen möglichst präzise festzustellen und das Beobachtungsmaterial tunlichst zu vermehren, um so viel Bedingungsgleichungen, denen die Molekülmodelle genügen müssen, zu erhalten, daß der Aufbau der letzteren eindeutig bestimmt erscheint.[2] Der Umstand, daß winzige Bakterien noch sehr komplizierte Gestaltungs- und Bewegungserscheinungen zeigen, obschon die Stoffe, also die Atome, aus welchen sie bestehen, jedenfalls nicht verschieden sind von den Atomen lebloser Körper, läßt vermuten, daß die einfachen Modelle Figg. 3 - 5 höchstens rohe Annäherungen an die Wirklichkeit darstellen. Klarheit über diese Verhältnisse zu gewinnen, ist nicht nur von größtem Interesse für Physik, Chemie und Kristallographie, sondern vor allem auch für Physiologie und


  1. H. Ambronn, Wied. Ann. 34 (1880), 340; Kolloidzeitschr. 20 (1917), 185; Hans Ambronn, Dissert. Jena 1914; R. O. Herzog u. W. Jancke, Zeitschr. f. Phys. 3 (1920), 196; E. Liebreich, Schweiz. Medizin. Wochenschrift, 1920.
  2. Zusammenfassende Berichte: O. Lehmann, Flüssige Kristalle, Leipzig 1904 (mit 483 Figuren im Text und 39 Tafeln in Lichtdruck); Die scheinbar lebenden Kristalle, Eßlingen a. N. 1907 (mit 109 meist farbigen Figuren im Text); Flüssige Kristalle und die Theorien des Lebens, Leipzig, 2. Aufl. 1908; Die neue Welt der flüssigen Kristalle, Leipzig 1911 (mit 246 Abb.); Die Lehre von den flüssigen Kristallen, Wiesbaden 1918 (mit 572 Abb.) und die neuesten Abhandlungen in den Annalen der Physik, in der physik. Zeitschr. usw.