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sehen; wir haben die bestehenden Arten sich erhalten und fortpflanzen, aber keine neuen Arten erscheinen sehen und keine Natur-Kraft gekannt, welche neue Arten in’s Daseyn ruft. Alle unsere Bemühungen sie zu finden, um von dem ersten Auftreten neuer Arten mit deren Hilfe Rechenschaft zu geben, waren vergeblich.

     Hilft aber die Darwin’sche Theorie diesem Mangel ab? Wir haben oben einige Einreden gegen sie vorgebracht, und unser persönliches Vermögen sie uns so, wie sie ist, anzueignen ist noch weit geringer, als jene Einreden vermuthen lassen. Aber sie leitet uns auf den einzigen möglichen Weg! Es ist vielleicht das befruchtete Ei, woraus sich die Wahrheit allmählich entwickeln wird; es ist vielleicht die Puppe, aus der sich das längst gesuchte Natur-Gesetz entfalten wird, nachdem es einen Theil der seinem unvollkommenen Zustande angehörigen Anhänge abgestreift und andere seiner Bestandtheile vollständiger ausgebildet haben wird. Oder wir haben das gesuchte Gesetz vielleicht bereits vor Augen, aber sehen es nur durch ein Kaleidoskop, dessen Facettirung wir erst studiren oder abschleifen müssen, um das Objekt nach seiner wahren Beschaffenheit beurtheilen zu können?

     Die Möglichkeit nach dieser Theorie alle Erscheinungen in der organischen Natur durch einen einzigen Gedanken zu verbinden, aus einem einzigen Gesichtspunkt zu betrachten, aus einer einzigen Ursache abzuleiten, eine Menge bisher vereinzelt gestandener Thatsachen den übrigen auf’s innigste anzuschliessen und als nothwendige Ergänzungen derselben darzulegen, die meisten Probleme auf’s Schlagendste zu erklären, ohne sie in Bezug auf die andern als unmöglich zu erweisen, geben ihr einen Stempel der Wahrheit und berechtigen zur Erwartung auch die für diese Theorie noch vorhandenen grossen Schwierigkeiten endlich zu überwinden. Diese glänzenden Leistungen der Theorie (ihre Wahrheit einmal zugestanden) sind es, die uns so mächtig zu ihr hinziehen, wie sehr wir auch des Wankens ihrer Grundlage uns bewusst sind. Denn die grösste Schwierigkeit für die Anerkennung dieser Theorie scheint allerdings zunächst im Grundgedanken selbst zu liegen, wenigstens nach seiner jetzigen Fassung:

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Charles Darwin: Entstehung der Arten. Stuttgart 1860, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Entstehung_der_Arten_1860_(Darwin)_518.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)