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erforderlich, warum der Embryo keine Metamorphose durchläuft? Wenn auf der andern Seite es dem Jungen vortheilhaft ist, eine von der älterlichen etwas verschiedene Lebens-Weise einzuhalten und demgemäss einen etwas abweichenden Bau zu haben, so kann nach dem Prinzip der Vererbung in übereinstimmenden Lebens-Zeiten die thätige Larve oder das Junge durch Natürliche Züchtung leicht eine in merklichem Grade von der seiner Ältern abweichende Bildung erlangen. Solche Abweichungen können auch mit den aufeinander-folgenden Entwickelungs-Stufen in Wechselbeziehung treten, so dass die Larve auf ihrer ersten Stufe weit von der Larve auf der zweiten Stufe abweicht, wie wir bei den Cirripeden gesehen haben. Das Alte kann sich Lagen und Gewohnheiten anpassen, wo ihm Bewegungs-, Sinnes- oder andere Organe nutzlos werden, und in diesem Falle kann man dessen letzte Metamorphose als eine zurückschreitende bezeichnen.

     Wenn alle organischen Wesen, welche noch leben oder jemals auf dieser Erde gelebt haben, zusammen klassifizirt werden sollten, so würde, da alle durch die feinsten Abstufungen mit einander verkettet sind, die beste oder in der That, wenn unsre Sammlungen einigermaassen vollständig wären, die einzige mögliche Anordnung derselben die genealogische seyn. Gemeinsame Abstammung ist nach meiner Ansicht das geheime Band, welches die Naturforscher unter dem Namen Natürliches System gesucht haben. Von dieser Annahme aus begreifen wir, woher es kommt, dass in den Augen der meisten Naturforscher die Bildung des Embryos für die Klassifikation noch wichtiger als die des Erwachsenen ist. Denn der Embryo ist das Thier in seinem weniger modifizirten Zustande und enthüllet uns in so ferne die Struktur seines Stammvaters. Zwei Thier-Gruppen mögen jetzt in Bau und Lebens-Weise noch so verschieden von einander seyn; wenn sie gleiche oder ähnliche Embryo-Stände durchlaufen, so dürfen wir uns überzeugt halten, dass beide von denselben oder von einander sehr ähnlichen Ältern abstammen und desshalb in entsprechendem Grade einander nahe verwandt sind. So verräth Übereinstimmung in der Embryo-Bildung gemeinsame Abstammung.

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Charles Darwin: Entstehung der Arten. Stuttgart 1860, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Entstehung_der_Arten_1860_(Darwin)_452.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)