Seite:De Entstehung der Arten 1860 (Darwin) 200.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


in demselben Grade vollkommener als das gläserne werden müsse, wie des Schöpfers Werke überhaupt vollkommner sind, als die des Menschen?

     Liesse sich irgend ein zusammengesetztes Organ nachweisen, dessen Vollendung nicht durch zahllose kleine aufeinander-folgende Modifikationen erfolgen könnte, so müsste meine Theorie unbedingt zusammenbrechen. Ich vermag jedoch keinen solchen Fall aufzufinden. Zweifelsohne bestehen viele Organe, deren Vervollkommnungs-Stufen wir nicht kennen, insbesondre bei sehr vereinzelt stehenden Arten, deren verwandten Formen nach meiner Theorie in weitem Umkreise erloschen sind. So muss auch, wo es sich um ein allen Gliedern eines Unterreichs gemeinsames Organ handelt, dieses Organ schon in einer sehr frühen Vorzeit gebildet worden seyn, weil sich nachher erst alle Glieder dieses Unterreichs entwickelt haben; und wenn wir die frühesten Übergangs-Stufen entdecken wollten, welche das Organ zu durchlaufen hatte, so müssten wir uns bei den frühesten Anfangs-Formen umsehen, welche jetzt schon längst wieder erloschen sind.

     Wir müssen uns wohl bedenken zu behaupten, ein Organ habe nicht durch stufenweise Veränderungen irgend einer Art gebildet werden können. Man könnte zahlreiche Fälle anführen, wie bei den niederen Thieren ein und dasselbe Organ ganz verschiedene Verrichtungen besorgt: athmet doch und verdaut und exzernirt der Nahrungskanal in der Larve der Drachenfliege wie in dem Fische Cobitis. Wendet man die Hydra wie einen Handschuh um, das Innere nach aussen, so verdaut die äussre Oberfläche und die innre athmet. In solchen Fällen hätte durch die Natürliche Züchtung ganz leicht ein Theil oder Organ, welches bisher zweierlei Verrichtungen gehabt hat, ausschliesslich nur für einen der beiden Zwecke ausgebildet und die ganze Natur des Thieres allmählich umgeändert werden können, wenn Diess für dasselbe von Anfang an nützlich gewesen wäre. Gewisse Pflanzen, wie namentlich einige Hülsen-Gewächse, Violaceen u. a. bringen zwei Arten von Blüthen, die einen mit der ihrer Ordnung zustehenden Bildung, die andern verkümmert, aber zuweilen

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Entstehung der Arten. Stuttgart 1860, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Entstehung_der_Arten_1860_(Darwin)_200.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)