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Im letzten Abschnitte endlich werde ich eine kurze Zusammenfassung des Inhaltes des ganzen Werkes mit einigen Schluss-Bemerkungen geben.

Darüber, dass noch so Vieles über die Entstehung der Arten und Varietäten unerklärt bleibe, wird sich niemand wundern, wenn er unsre tiefe Unwissenheit hinsichtlich der Wechselbeziehungen all' der um uns her lebenden Wesen in Betracht zieht. Wie kann man erklären, dass eine Art in grosser Anzahl und weiter Verbreitung vorkömmt, während ihre nächste Verwandte selten und auf engen Raum beschränkt ist? Und doch sind diese Beziehungen von der höchsten Wichtigkeit, insoferne sie die gegenwärtige Wohlfahrt und, wie ich glaube das künftige Gedeihen und die Modifikation eines jeden Bewohners der Welt bedingen. Aber noch viel weniger Kenntniss haben wir von den Wechselbeziehungen der unzähligen Bewohner dieser Erde während der zahlreichen Perioden ihrer einstigen Bildungs-Geschichte. Wenn daher auch noch Vieles dunkel ist und noch lange dunkel bleiben wird, so zweifle ich nach den sorgfältigsten Studien und dem unbefangensten Urtheile, deren ich fähig bin, doch nicht daran, dass die Meinung, welche die meisten Naturforscher hegen und auch ich lange gehabt habe, als wäre nämlich jede Spezies unabhängig von den übrigen erschaffen worden, eine irrthümliche sey. Ich bin vollkommen überzeugt, dass die Arten nicht unveränderlich sind; dass die zu einer sogenannten Sippe [1] zusammengehörigen Arten in einer Linie von anderen gewöhnlich erloschenen Arten abstammen, in der nämlichen Weise, wie die anerkannten Varietäten einer Art Abkömmlinge dieser Species sind. Endlich bin ich überzeugt, dass Natürliche Züchtung das hauptsächlichste wenn auch nicht einzige Mittel zu Abänderung der Lebenformen gewesen ist.


  1. Ich wähle das Oken'sche Wort „Sippe“ für Genus, weil das Deutsche Wort „Geschlecht“ seiner zweifachen Bedeutung wegen hier das Verständniss nicht selten erschweren würde. Leider besitzen wir keinen ähnlichen Ausweg, der Missdeutung des ebenfalls zweisinnigen Wortes „Art“ zu entgehen, welches bald für Species und bald für das Englische „Kind“ angewendet werden muss.     D. Übers.
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Charles Darwin: Entstehung der Arten. Stuttgart 1860, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Entstehung_der_Arten_1860_(Darwin)_012.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)