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Und während ich dieß so in Gedanken hin und her drehte, entfuhren mir wieder die unvergeßlichen Worte: Dang longsch ie’l pa da tlo fin a Urteschei.

Wer sich nun auf die andre Seite dreht, der ist auch nach dem Schlern und dem Langkofel noch überrascht, wenn er über das Thal von Abtei hinaus die blendenden gezackten Firsten des Kreuzkofels gewahrt, der an starrer Größe, an ungethümer Zerrissenheit mit allen seinen Nachbarn wetteifert. Auch auf seinen Spitzen lag ein weißer Mantel und an seinen steilen Wänden hatten sich doch einzelne schräge Schneefäden angehängt. Unten im grünen Thale aber lagen in breiten Gerstenfeldern, Kolfuschg und Corvara, zwei niedliche Dörfer, doppelt freundlich anzusehen in der fürchterlichen Bergwildniß.

Kolfuschg, das zu deutsch Schwarzenberg heißen würde (col, fusc) blieb links zur Seite liegen. Wir schritten also gegen Corvara zu, das letzte Dorf im Enneberger Land, mit weitzerstreuten guten Häusern, mit Kirche und Wirthshaus, am Rande eines Wildbaches gelegen. Die Gegend ist voll guter Alpenweiden, liegt aber zumeist bis Georgi unter dem Schnee. In der alten Kirche ist ein gothischer Altar und ein schönes altes Bild darauf, die Enthauptung der heiligen Katharina vorstellend. Der Henker, der das blutige Geschäft verrichtet, ist ein stattlicher, schlankgewachsener Kriegsmann in höchst schmucksamer altdeutscher Kleidung mit weiten Puffen an den Aermeln und um die Hüften. Als den Meister dieses Bildes nennt man bald Tizian, bald einen unbekannten Schüler Albrecht Dürers; wenn’s aber von einem der beiden seyn muß, ist’s gewiß lieber von letzterem. Die anders Denkenden, und dazu gehören die meisten Leute des Thales, behaupten aber, der venetianische Maler sey durch schlimmes Wetter auf einer Winterreise in Corvara aufgehalten worden und habe da den Einwohnern dieses Angedenken hinterlassen. Auf dem Kirchhofe zu Corvara sind lauter neuere Inschriften in italienischer Sprache; nur eine ältere aus dem vorigen Jahrhundert ist deutsch und bezeichnet das Grab eines Herrn von Prack aus einem Geschlecht, das in frühern Zeiten in Enneberg ebenso berühmt war, als die Ritter von Wolkenstein im Gröden.

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Ludwig Steub: Drei Sommer in Tirol. München 1846, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Drei_Sommer_in_Tirol_(Steub)_456.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)