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Andern Tages 36 Minuten nach zwölf Uhr war die Spitze erreicht, deren Höhe zu 12044 Pariser Fuß bestimmt wurde. Das Wetter war gut und die Aussicht unermeßlich – um so lohnender nach den Fährlichkeiten, deren Darstellung dem mit solchen Begegnissen minder vertrauten Leser manchen Schauer erregt. Man erblickt dort die Hochgebirge des größten Theils von Tirol und sieht gegen Salzburg und Kärnthen hinein noch Kuppen, welche jenseits des Großglockners stehen. Der Spiegel des adriatischen Meeres, der doch in die Aussichtsweite fällt, war gleichwohl nicht mehr zu unterscheiden; bestimmt aber traten hervor die Gletscherhöhen der Lombardei, Piemonts, wahrscheinlich auch Savoyens, die Hörner der Schweiz und über diese und die Ferner des Oetzthales hinausging der Blick bis in die Ebenen von Bayern und Schwaben. Vier Jahre später unternahm der Postmeister von Prad mit fünf Begleitern, worunter ein sechzehnjähriges Mädchen, abermals eine Besteigung, welche ebenfalls glücklich ablief, indessen nicht näher beschrieben worden ist. Dieß ist die letzte, von der wir gelesen.

An dieser Stelle, wo die Ortlerstraße abgeht, macht übrigens das Thal eine Beugung. Das kalte Hochland der Gerichte von Nauders und Glurns, der Verwaltungsbezirk des Oberinnthals ist zu Ende und es beginnt das warme untere Vintschgau, ein verdeutschtes Italien. Rechts stehen die Eisberge, die Suldnerferner, die Gespannen des Ortles, mit weißen Scheiteln und grünen bewaldeten Abhängen, links liegen die Sonnenberge des Vintschgaus, zumeist dürre, gelbe, zerbröckelte Halden. Im Thale geht die Etsch, die sich vielfach in weite Moosgründe verliert, auf welchen man die Vintschger Gäule weiden sieht.

Eyrs, das erste Dorf nach diesem Scheidepunkt, weist an seinem Ende noch die verfallenen Mauern eines längst verlassenen Schlosses, worin die Grafen von Moosburg aus Bayern seßhaft gewesen. Ueber der Etsch am steilen Berghang steht das Dorf Tschengels, mit Wallfahrtskirche und der Tschengelser Burg, ehedem den Rittern von Tschengels, dann den Grafen von Lichtenstein gehörig. Nicht weit davon ist das neue Gebäude des heilsamen Bades zu Schgums, worin mit

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Ludwig Steub: Drei Sommer in Tirol. München 1846, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Drei_Sommer_in_Tirol_(Steub)_293.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)