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wolle und die Blamage, die wohl ein Einzelfall war, in das Ewige zu rücken gewusst hat.

Noch oft hat Goethe ihm in der Folgezeit wichtige Dienste geleistet; sein Zettelkasten wuchs, entwickelte sich, reifte. Die sattsam bekannte Anekdote von dem Hunde Bello pflegt er noch heute gegen den einst von ihm vertheidigten Naturalismus auszuspielen, und als die literarische Eigenthumsfrage acuter wurde, glaubte er für die künstlerische Verklärung des Plagiats sich auf Goethe berufen zu sollen. Wonach sich communistische Gäste des Café Griensteidl so lange gesehnt hatten, der literarische Diebstahl war mit Erlass vom 20. Juni 1896 gestattet. Censurfreiheit und Aufhebung des Colportageverbotes hätten das heimische Schriftthum kaum besser befruchten können. –

Man mag kühn behaupten, der Wirkungskreis, den der Herr aus Linz in Wien erlangte, habe sich auf drei, bei gut besuchtem Kaffeehause vier Tische erstreckt. Vom linken Spiegeltisch an beginnt seine Popularität nachzulassen. Hier postirten sich jene Literaten, die, nicht gewillt, seine absolutistische Geschmacksdictatur bedingungslos anzuerkennen, sich bald von ihm losgesagt und als selbständige Poseure etablirt hatten. Indess, der Einfluss des Mannes, der, wo er sich nicht direct für eine Unbegabung eingesetzt, doch auch noch kommenden Mittelmässigkeiten den Boden gelockert hat, sollte nicht undankbarerweise vergessen werden. Die solchen Impuls empfangen hatten, gingen allerdings, während er an der Ueberschätzung neuer Talente arbeitete, den Weg eigener Entwicklung. Es ist ihnen nicht leicht gemacht worden. Eigener Kraft verdanken sie den heutigen Besitz ihrer Nervenschwäche; Selfmade-men der Unnatürlichkeit, mussten sie sich ihre Blasirtheit erst erwerben. – Es ist nun rührend, wie aristokratische Dichter, deren Adel bereits zahlreiche Degenerationen umfasst, sich über Standesunterschiede hinwegsetzen und ohne Stolz mit den Emporkömmlingen der Decadence verkehren. Diese sind eben heute der eigentliche Hort dessen, was man im Auslande als moderne wienerische Kunst zu bezeichnen pflegt, – Jung-Oesterreich. Wien heisst der geistige Nährboden dieser Poeten, denen ein gütiges Geschick das süsse Vorstadtmädel schon in die Wiege gelegt hat, und die so genügsam sind, dass sie mit ein paar Wiener Stimmungen ihr ganzes Leben auszukommen hoffen.

Die moderne Bewegung, die vor einem Jahrzehnt vom Norden ausging, hat hier nur rein technische Veränderungen hervorgerufen.

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Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: A. Bauer, 1899, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_30.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)