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den Entdecker zu dem Ausrufe: „Goethe auf der Schulbank!“ Man beeilte sich, den Jüngling für das Kaffeehaus zu gewinnen, und seine Eltern selbst führten ihn ein: sollte doch gezeigt werden, dass er vom Vater die Statur, des Lebens ernstes Führen, vom Mütterchen die Frohnatur, die Lust zum Fabuliren habe. Seine Bewegungen nahmen bald den Charakter des Ewigen, seine Correspondenzen den des „Briefwechsels“ an. Er ging daran, ein Fragment zu schreiben, und war es seiner Abgeklärtheit schuldig, seine Manuscripte für den Nachlass vorzubereiten. In hoheitsvollen Versen liess er noch den Erben an Adler, Lamm und Pfau das Salböl aus den Händen der todten alten Frau verschwenden – dann studirte er sich seine „Letzten Worte“ ein.

Eine der zartesten Blüthen der Decadence spross dem Café Griensteidl in einem jungen Freiherrn, der, wie man erzählte, seine Manierirtheit bis auf die Kreuzzüge zurückleitet. Die Art des jungen Mannes, der sich einst zufällig in das Kaffeehaus verirrte, gefiel dem Herrn aus Linz. Als jener sich vollends zu der enthusiastischen Bemerkung hinreissen liess: „Der Goethe is ganz g’scheit“, da fühlte dieser: hier lag eine Fülle von Affectation, die der Literatur nicht verloren gehen durfte. So ward in dem Jüngling das Bewusstsein seiner Sensitivität geweckt, welches ausgereicht hätte, ihn zu productivem Schaffen anzuregen. Dazu kam eine mit Kalksburg übertünchte Phantasie, und als das Product jener geistigen Beschränktheit, welche, von den sich an das Wort „wienerisch“ knüpfenden Vorstellungen ausgefüllt, unter dem Namen „reines Künstlerthum“ geläufig ist, entstand eine Novelle, „Der Kindergarten der Unkenntnis“.

Kein Wunder, dass sie dem Entdecker gefiel. Er stellte den Autor neben Goethe, den neuerlich zu feiern er Gelegenheit fand, und freute sich, dass ihm das Verständnis für den ihm unbekannten Meister aus der Ueberschätzung des ihm bekannten Dilettanten so schon aufgegangen war. Goethe hatte die Bausteine für einen jungen Ruhm und die Phraseologie einer neuen Kunst für das Café Griensteidl zu liefern. In der That erschien das kunstphilosophische Grundprincip von dem „Besonderen, aus dem das Allgemeine zu ziehen“ und dem „Einzelfall, der in das Ewige zu rücken“ ist, wiederholt compromittirt und als modernes Schlagwort protzig hingestellt, auf die letzte literarische Sensation insoferne anwendbar, als hier der Herr aus Linz für eine besondere Talentlosigkeit das allgemeine Interesse in Anspruch nehmen

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Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: A. Bauer, 1899, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_29.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)