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Die syntaktischen Reformen, die er in unser Schriftthum einführte, haben den Mann populär gemacht. Aber auch inhaltlich hat er, durch Meinung und Tonart seiner Aufsätze, jederzeit im Sinne einer Volksaufheiterung gewirkt. Einer grossen Zugkraft erfreuten sich die köstlichen Wahnvorstellungen, die er zu produciren pflegte, die grotesken Ueberhebungen, zu denen sich der „gemüthliche Wiener Bitz“ verstieg. Keine bedeutungsvolle Entdeckung, die ohne seine Mithilfe gemacht worden wäre, keine künstlerische Persönlichkeit, die nicht von ihm die erste Anregung empfangen hätte. Alles verdankt ihm seine Entstehung, alle hat er „gemacht“. Ueber Mascagni schreibt er:

... Ich trug das Meine bei, um ihm zu helfen mit gefälligen Reclamen.
... So nützte ich ihm gerne, wie gesagt: ich nütze immer Anderen gerne; auch heute noch.

Und in der gleichen Tonart ruft er aus:

Endlich ist es Hermann Sudermann gelungen, mich vollständig zu überzeugen!

Wo der Schriftsteller, sei es durch Undeutsch oder Grössenwahn, das ganze Interesse der Oeffentlichkeit absorbirt – bleibt für den Maler nichts mehr übrig, und er muss der Beliebtheit des Schreibenden weichen. Gerade er nun konnte dem Stillleben zu bedeutendem Aufschwung verhelfen und namentlich als Stylblütenmaler Hervorragendes leisten. Dem Porträtisten begegnet man schon lange mit Misstrauen. In den letzten Jahren haben sich nur mehr Verstorbene von ihm zeichnen lassen, z. B. Bruckner und Tilgner. Kein Tadel kann ihn in solchen Fällen treffen; hat er doch hier die Entschuldigung der vom Tode entstellten Züge für sich.

Probleme sind es, des Schweisses der Edeln werth, welche eine benachbarte Tischgesellschaft in Athem halten. Kein literarischer Misston stört die reine Theaterfreude dieser Menschen, kein Jung-Wiener Künstler verirrt sich hieher. Wer hat am 24. April im Stadttheater in Regensburg den dicken Herrn in der „Wildente“ gespielt? Wann trat Herr Rottmann im Burgtheater zum letztenmal auf? Diese und ähnliche Themen, sonst mit Leidenschaft erörtert, müssen doch in den Hintergrund treten, wenn die Lebensfrage auftaucht: Sind heut’ Freikarten? Jedem Schauspieler ist ein Theaterinteressent an die Seite gegeben, der ihm mit demselben

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Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: Wiener Rundschau, 1897, Seite 288. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_20.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)