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erst erwerben. – Es ist nun rührend, wie aristokratische Dichter, deren Adel bereits zahlreiche Degenerationen umfasst, sich über Standesunterschiede hinwegsetzen und ohne Stolz mit den Emporkömmlingen der Decadence verkehren. Diese sind eben heute der eigentliche Hort dessen, was man im Auslande als moderne wienerische Kunst zu bezeichnen pflegt, – Jung-Oesterreich. Wien heisst der geistige Nährboden dieser Poeten, denen ein gütiges Geschick das süsse Vorstadtmädel schon in die Wiege gelegt hat, und die so genügsam sind, dass sie mit ein paar Wiener Stimmungen ihr ganzes Leben auszukommen hoffen.

Die moderne Bewegung, die vor einem Jahrzehnt vom Norden ausging, hat hier nur rein technische Veränderungen hervorgerufen. Von der inneren Wirkung neuen Styls, der das Stoffgebiet erweitern half und sociale Probleme ins Rollen brachte, ist unsere junge Kunst verschont geblieben, die geradezu in der Abkehr von den geistigen Kämpfen der Zeit ihr Heil sucht. Wenn Gedankenarmuth in Stimmungen schwelgen will, muss das Wienerthum für die Farbe herhalten, und der Localpatriotismus erwacht zu neuem, sensitiverem Dasein.

Ueber den vielen Kaffeehaussitzungen, die zum Zweck einer endgiltigen Formulirung des Begriffes »Künstlermensch« abgehalten wurden, sind so manche dieser Schriftsteller nicht zur Production gekommen. Bevor man sich nicht über eine Definition geeinigt hatte, wollte sich keiner an die Arbeit trauen, und manche hatten sich längst als Stammgäste einen Namen gemacht, bevor sie dazu kamen, sich ihn durch ihre Werke zu verscherzen. Griensteidl ist nun einmal der Sammelpunkt von Leuten, die ihre Fähigkeiten zersplittern wollen, und man darf sich über diese Unfruchtbarkeit von Talenten nicht wundern, welche so dicht an einem Kaffeehaustisch beisammen sitzen, dass sie einander gegenseitig an der Entfaltung hindern. Prätention scheint ja in Fülle vorhanden zu sein, überall, an allen Ecken und Enden, keimt eine junge Manierirtheit, wie sie bis nun keine zweite Literaturbewegung hervorgebracht hat: wenn jetzt auch noch Begabung hinzukommen sollte, werden wir jungen Oesterreicher getrost das Ausland in die Schranken fordern können.

Bis heute war in diesen Kreisen eine affectirte Beziehung zur Kunst vorgeschrieben, und das eigenartige Können der Jungwiener Dichter besteht darin, dass sie ein grosses Interesse für lebemännische Alluren an den Tag legen, dass sie imstande sind, von

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Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: Wiener Rundschau, 1897, Seite 277. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_09.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)