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96.24 Die demolirte Literatur[1]

Wiener Rundschau, Wien [Jg. 1], Nr. 1 v. 15. November 1896, S. 19–27 [I], Nr. 2 v. 1. Dezember 1896, S. 68–72 [II], Nr. 3 v. 15. Dezember 1896, S. 113 bis 118 [III], Nr. 4 v. 1. Januar 1897, S. 153–157 [IV].
[Gez.: Karl Kraus].
[Kerry: Vf 109–112].


I.

Wien wird jetzt zur Grossstadt demolirt. Mit den alten Häusern fallen die letzten Pfeiler unserer Erinnerungen, und bald wird ein respectloser Spaten auch das ehrwürdige Café Griensteidl dem Boden gleichgemacht haben. Ein hausherrlicher Entschluss, dessen Folgen gar nicht abzusehen sind. Unsere Literatur sieht einer Periode der Obdachlosigkeit entgegen, der Faden der dichterischen Production wird grausam abgeschnitten. Zu Hause mögen sich Literaten auch fernerhin froher Geselligkeit hingeben; das Berufsleben, die Arbeit mit ihren vielfachen Nervositäten und Aufregungen spielte sich in jenem Kaffeehause ab, welches wie kein zweites geeignet schien, das literarische Verkehrscentrum zu repräsentiren. Mehr als ein Vorzug hat dem alten Locale seinen Ehrenplatz in der Literaturgeschichte gesichert. Wer gedenkt nicht der schier erdrückenden Fülle von Zeitungen und Zeitschriften, die den Besuch unseres Kaffeehauses gerade für diejenigen Schriftsteller, welche nach keinem Kaffee verlangten, zu einem wahren Bedürfniss gemacht hatte? Braucht es den Hinweis auf sämmtliche Bände von Meyer’s Conversationslexikon, die, an leicht zugänglicher Stelle angebracht, es jedem Literaten ermöglichten, sich Bildung anzueignen? Auf das reiche Schreibmaterial, das für unvorhergesehene Einfälle stets zur Hand war? Namentlich die jüngeren Dichter werden das intime, altwienerische Interieur schmerzlich entbehren, welches, was ihm an Bequemlichkeit gefehlt, jederzeit durch Stimmung zu ersetzen vermocht hat. Nur der grosse Zug, der hin und wieder durch diese Kaffeehausidylle ging, wurde von den sensiblen Stammgästen als Stilwidrigkeit

  1. Bekanntlich fällt das Café Griensteidl, in welchem unsere junge Literatur untergebracht ist, demnächst der Zerstörung anheim. Auf dieses Ereigniss bezieht sich eine Serie von Artikeln, denen wir Raum geben, weil sie geistreich und weil sie actuell sind. Wir betonen jedoch, dass wir uns mit dem Standpunkte des Verfassers keineswegs identificiren.
    Die Redaction.
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Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: Wiener Rundschau, 1897, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_01.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)