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ein Paradies neben den Katakomben, die unsere Liebe sich gemauert hat, seitdem man ihr das Licht nahm. Als die christliche Nacht hereinbrach und die Menschheit auf Zehen zu der Liebe schleichen mußte, da begann sie sich dessen zu schämen, was sie tat. So trat man ihr die Augen aus. Da lernte sie die erotische Blindenschrift. So legte man sie in Ketten. Da liebte sie die Musik klirrender Ketten, also die Perversität. Aber sie schämte sich der Gefangenschaft nicht, sondern der Gedanken, auf die sie darin verfiel; nicht der Ketten, aber des Geräusches. Sie hatte sich der Freiheit ihrer geschlechtlichen Natur geschämt, und sie schämte sich der Perversion, welche die Kultur der sexuellen Unfreiheit ist. Sie brannte und verstellte sich den Notausgang. Und trug Stein um Stein herbei, bis eine

Mauer ihr Reich der Mitte umgab, ihr himmlisches Reich. Dieses geschah um 500 nach Confucius. Die große chinesische Mauer der abendländischen Moral schützte das Geschlecht vor jenen, die eindringen wollen, und jene, die eindringen wollen, vor dem Geschlecht. So war der Verkehr zwischen Unschuld und Gier eröffnet, und je mehr Pforten der Lust verschlossen wurden, umso ereignisvoller wurde die Erwartung. Da schlägt die Menschheit an das große Tor und ein Weltgehämmer hebt an, daß die chinesische Mauer ins Wanken gerät. Und das Chaos sei willkommen; denn die Ordnung hat versagt. Eine gelbe Hoffnung färbt den Horizont im Osten, und alle

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Karl Kraus: Die Chinesische Mauer. Leipzig 1914, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Chinesische_Mauer_(Kraus)_30.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)