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„erweislich Wahre“ in diesen Verhältnissen ausspionierte. Auch würden sie ihre Folter nie dazu mißbrauchen, einem herzkranken Greis die Beichte seiner Jugendsünden zu erpressen. Dem Chinesen geht eben in jedem Belang Lebensweisheit über Kenntnisse. Er ist ein Raumkünstler in der Nußschale des Daseins; er nützt es aus und verstellt sich den Weg nicht durch Überflüssiges. Und stellt sich selbst nicht in den Weg. Von seiner Ersetzlichkeit überzeugt, bewährt er im Transzendenten einen sozialen Sinn, der in der abendländischen Ethik verkleideter Egoismus ist. Er weiß Platz zu machen; seine Nächstenliebe wirkt nicht in räumlicher, sondern in zeitlicher Dimension. Er lebt nicht im Wahn der Individualität, die sich an der Tatsachenwelt beweist. Er taucht unter im Gewimmel und ist sich selbst so wenig unterscheidbar wie dem fremden Auge. Weil alle gleich sind, können sie der demokratischen Wohltat entbehren. Ihr Gesetz hat schwerere Strafen, weil der Täter schwerer zu finden ist. Ein Zopf entkam: eine Ratte... Das „Verhör des dritten Grades“, das die New Yorker Polizei anwendet, lockt keinem Volksgenossen ein Geständnis heraus. Die Untersuchung, wer ein Christenmädchen ermordet hat, kann nur das Ergebnis haben: Niemand. Aber die Untersuchung, wer ein Christenmädchen verführt hat, das Ergebnis: Alle!

Und allen wird es ferner gelingen. Die amerikanische Behörde wird in den gelben Bezirken Ordnung machen,

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Karl Kraus: Die Chinesische Mauer. Leipzig 1914, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Chinesische_Mauer_(Kraus)_26.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)