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Liebsten war. Der Ernst des Lebens, dieser lächerliche Verwalter ihres geistigen Inventars, hat ihnen das eheliche Vergnügen nur dort gestattet, wo sie es als eheliche „Pflicht“ fatieren können. So bedarf es schon starker Reizungen, um ihr Interesse auf ein Lebensgebiet zu lenken, wo der Wechsel der Ereignisse sich nur stiller, nicht spärlicher vollzieht als im Kommerz. Die Leiche im Koffer ist die notwendige Sensation, ohne deren Vermittlung für eine geräuschvolle Zeit Erkenntnisse nicht zu haben sind.

Daß Elsie Siegl starb, ist ein Lokalfall, zu dem die Reporter noch Worte finden mögen. Aber daß bei dem Kellner Leon Ling zweitausend Liebesbriefe von Frauen exquisiter Lebenshaltung gefunden wurden, das macht die Klatschmäuler verstummen und gibt dem Ereignis seine kulturbange Größe. Die Presse, die sich den Kopf der Welt dünkt und nur ihr Schreihals ist, kann uns nicht einmal mit Entrüstung dienen. Kein „Sumpf der Großstadt“ ist entdeckt worden; nicht die Fäulnis jener, die die Moral verletzten, ist aufgebrochen, sondern die Fäulnis der Moral. Hier hat Naturnotwendigkeit des Geschehens über die Lüge der Anschauung das Urteil gesprochen. Amerika macht es nur deutlich; es gibt Entwicklungen und Katastrophen das Maß. John ist unbedenklicher als Hans und hat größere Achtung vor der Genußfähigkeit seiner Frau als der gefühlvolle Vetter, der ihr eine Seele gönnt und sie „mit dem Weltganzen verknüpfen“ möchte,

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Karl Kraus: Die Chinesische Mauer. Leipzig 1914, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Chinesische_Mauer_(Kraus)_20.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)