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das Säckchen am Halse fehle. Ach sollte er mir den Stein geraubt haben und damit entflohen sein? dachte sie, und was konnte sie auch anders denken? Der Gedanke betrübte sie gar zu sehr und wäre sie nicht so fromm gewesen, sie hätte sich den bittern Tod angethan. Nun aber gab sie ihr trauriges Schicksal in des Himmels Hand und ging weiter im Walde gar mühsame Wege, bis sie an das Meer kam. Da lag ein Schiff vor Anker, das nahm sie um Gotteswillen auf und setzte sie nach vielen Wochen in einem fremden Lande an das Ufer. Sie ging und ging, bis sie in der Ferne ein Schloß sah und als sie näher kam, erkannte sie, daß es das Schloß war, wo der Prinz sie gerettet hatte. Da wurde sie frohen Muthes, denn sie dachte ihr Mann werde wieder dort sein und wenn er sie wieder sehe, könne er sie ja nicht verstoßen. Also ging sie in das Schloß und fragte nach dem Prinzen; die Diener wollten ihr eben sein trauriges Schicksal erzählen, da kam die Königin hinzu und erkannte sie. „Ei bist du hier und was hast du denn hier zu suchen?“ frug das böse Weib; da erzählte die Prinzessin, wie sie ihren Mann suche, den sie im Walde verloren habe. „Komm mit herein,“ sprach die Königin; als die Prinzessin ihr folgte, schloß sie schnell die Thür ab und rief den Greis. Sie faßten die Prinzessin, gruben ihr Abends die Augen aus und warfen sie in die Löwengrube. „Da kannst du deinen Mann suchen,“ riefen sie ihr nach und verhöhnten sie. Die Löwen fraßen sie aber nicht, sondern die jungen Löwen leckten ihr die Augen heil und die Alten brachten ihr Nahrung, so daß sie am Leben blieb.

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Johann Wilhelm Wolf: Deutsche Hausmärchen. Göttingen und Leipzig 1851, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Deutsche_Hausm%C3%A4rchen_163.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)