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Befragen wir nun aber über den Ausbruch des Krieges unsere Hauptquelle, Thukydides, so erhalten wir ein ganz anderes, und zwar, wie uns scheint, innerlich durchaus wahrscheinliches Bild[1].

Nach ihm (I, 67) findet auf die Beschwerden der Korinther gegen die Athenische Politik eine Versammlung aller der Bundesgenossen statt, die sich über Athen zu beklagen haben, und die Spartaner beschliessen auf ihre Vorstellungen hin mit grosser Mehrheit, dass die Verträge gebrochen seien. Die Sache kommt aber (I, 119) noch vor die Vollversammlung der Bundesgenossen, deren Masse (τὸ πλῆθος) nun den Krieg beschliesst (I, 125). Etwas anderes war angesichts des Hilferufs, den das nach Sparta mächtigste Bundesglied hatte erschallen lassen, in der That kaum möglich, wenn der Bund nicht politisch abdanken wollte. Athen stand im Begriff, Korinth im Westen gänzlich aus seiner vorwaltenden Stellung zu verdrängen, und was war der Peloponnesische Bund seinen Gliedern noch werth, wenn er sie in solchen Lebensfragen im Stiche liess? Diese Erwägung musste alle Unlust der Binnenländer, sich für die Seestädte zu schlagen[2], in Sparta ersticken. Den Spartanern als Vollstreckern des Mehrheitsbeschlusses – der mit ihrem eigenen Beschluss sich völlig deckte – war nunmehr die Richtung unabänderlich vorgezeichnet, und das Nächstliegende wäre gewesen, sofort den Krieg zu erklären und ihn sofort zu beginnen. Das war aber nicht möglich, weil man noch nicht vorbereitet war (I, 139). Es bestand vielmehr die Gefahr, dass Athen, das mit seinen Kriegsvorbereitungen viel rascher fertig werden konnte, den Peloponnesiern zuvorkam; also musste man es durch Verhandlungen hinzuhalten suchen. Zugleich galt es, die Athener womöglich noch mehr in’s Unrecht zu setzen, indem man ihnen scheinbar nochmals die Hand zum Frieden bot (ὅπως σφίσιν ὅτι μεγίστη πρόφασις

  1. Nissen hat in der Hist. Zeitschr. 63, 385–427 den Ausbruch des Peloponnesischen Krieges in seiner ebenso selbständigen als vorsichtigen, durchaus auf solidem Untergrund ruhenden Weise behandelt und in Perikles’ Bestreben, die 445 verlorene Position namentlich durch Wegnahme Megaras wieder zu gewinnen, den letzten Grund des Krieges erkannt. Thukydides hat nach ihm den Zusammenhang nicht gefälscht – das thut er nie –, aber durch Verschweigen verdunkelt. So viel Vorzügliches Nissen’s Aufsatz enthält, so weiche ich doch in dem Grundgedanken von ihm ab, sofern ich den Zusammenstoss für etwas Unvermeidliches ansehe und also mich nicht davon überzeugen kann, dass eine andere Politik Athens in den Fragen des Westens und Megaras den Krieg verhütet hätte. Die Streitfrage ist ähnlich wie die, ob der Krieg des revolutionären Frankreich gegen das alte Europa von der Gironde verschuldet oder unabwendbar war.
  2. Nissen S. 412.
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1894, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1894_11_147.jpg&oldid=- (Version vom 9.5.2023)