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den Willen der Vertragschliessenden ein revolutionärer Ton in die Binger Urkunde hineingekommen.

Es ist an und für sich schon sehr unwahrscheinlich, dass die zu sorgfältiger Berathung mit ihren Räthen mehrere Tage lang in Bingen versammelten Kurfürsten gar nicht gemerkt haben sollten, welch’ eigenthümliche Färbung ihr ganz harmlos gemeinter Vertrag auf diese Weise erhielt; jedenfalls aber muss eine derartige Behauptung bewiesen werden. Lindner meint, zum Beweise diene der Umstand, dass mehrere der übernommenen Artikel, welche 1399 wohl begründet waren, jetzt, 1424, keinen Sinn mehr gehabt hätten; man habe folglich mechanisch abgeschrieben, ein Plagiat begangen. Als solche Artikel führt er drei an, den über die Kirchensache, das Vicariat und die Entgliederung des Reiches.

Der Artikel über die Kirchensache bestimmte 1399, zur Zeit des grossen Schismas, man wolle in allen Fragen, welche die Kirche und den Römischen Stuhl beträfen, nur gemeinsam handeln. Im Jahre 1424 bestand aber kein Schisma, und so scheint der Artikel in der That nicht mehr recht zu passen. Aber er ist doch nicht ganz wörtlich abgeschrieben, sondern enthält den Zusatz „ob ein scisma worde“, dann solle dieses gemeinsame Handeln eintreten. Man war sich also in Bingen völlig klar darüber, dass der alte Wortlaut nicht mehr ganz passe, und änderte ihn dementsprechend.

In Betreff des Reichsvicariates war 1399 festgesetzt worden: wenn Jemand ohne die Zustimmung sämmtlicher Kurfürsten nach dieser Würde strebe, so sollten alle Contrahenten dagegen auftreten und keiner seine Einwilligung geben. Lindner meint, auch diese Bestimmung habe 1424 keine rechte Bedeutung mehr gehabt. Aber war denn nicht eben wegen der Ernennung Konrad’s von Mainz zum Reichsvicar[1] ein heftiger Streit unter den Kurfürsten selbst über die Zulässigkeit dieses Verfahrens geführt worden? Solchen Vorkommnissen musste man doch vorbeugen. Und auch hier begegnet uns ein Zusatz „doch beheltenisz unser iglichem sines rehten nach ußwijsunge der

  1. Ich gehe auf die Entstehung dieses Vicariatsstreites absichtlich nicht näher ein, da Heuer eine neue Veröffentlichung darüber in Aussicht gestellt hat.
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1894, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1894_11_072.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2023)