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Die Verhandlung selbst aber war in Form und Inhalt gleich empörend. Weder in Frankreich noch in England hätte je ein Mitglied des Unterhauses gewagt, gegen einen feierlichen Beschluss des Oberhauses in so ungeziemenden Ausdrücken Beschwerde zu erheben. Die angegriffene Stelle war ohne alle Einschränkung correct, constitutionell, dem Standpunkte der Reichsräthe in der neuen Verfassung aufs vollkommenste angemessen, dabei weise und heilsam, und durch die ersten Schritte der Deputirtenkammer nur zu sehr gerechtfertiget. Weit entfernt aber, den Redner, der die darin ausgesprochenen Wahrheiten als Verletzung des Volksrechts und Verrath an der Constitution getadelt hatte, wenigstens durch unzweideutige Missbilligung zu bestrafen, gestattete man der zu München erscheinenden politischen Zeitung dem Ankläger eine Lobrede zu halten, und das Unternehmen als einen Beweis zu citiren, „von welchem guten Geiste die Kammer der Deputirten belebt sei“. Die Allgemeine Zeitung ging noch weiter, und nannte diese anstössige Scene ein „erhebendes Schauspiel für In- und Ausland“. Solche Fortschritte hat die Krankheit in kaum vierzehn Tagen gemacht!

7. Das Schlimmste bei der Sache ist, dass allen diesen gefahrvollen Verirrungen bisher wenig oder gar kein Widerstand geleistet wurde. Das Monopol der Rede üben vier oder fünf Freiheitsapostel aus, die in allen seitherigen Debatten der Kammer eine grosse Mehrheit auf ihre Seite zu ziehen wussten. Ob es irgend eine Opposition – d. h. eine Regierungspartei, denn diese könnte nur noch als Opposition auftreten – geben wird, lässt sich nicht bestimmen; bis jetzt ist nichts davon sichtbar geworden. Die zur besseren Belehrung des Volks öffentlich bekannt gemachten Sitzungsprotokolle sind auf jeder Seite voll von verwegenen und ausschweifenden Aeusserungen, und nirgends ein kräftiges Wort, das dem Unwesen Schranken setzte. Die Regierung scheint in der Kammer weder Vertreter noch Organe zu haben; sie müsste denn, in unseliger, aber nicht beispielloser Verblendung, diejenigen als ihre Bundesgenossen betrachten, die sich durch eine oder die andere Schattirung in Denkungsart oder Sprache von ihren erklärten Feinden unterscheiden. Wenn sie auf keine anderen Stützen zu zählen hat, so wird es ihr schwer werden, dem bevorstehenden Ungewitter die Spitze zu bieten.

8. Wie die Baierische Regierung selbst über die bisherigen Vorfälle denkt, ist mir unbekannt. Es sind jedoch, wie mich dünkt, hier nur zwei Fälle möglich. Der eine, dass sie mit dem Gange der Deputirtenkammer einverstanden sei; der andere, dass sie, die Gefahr richtig beurtheilend, und nur vom Drange des Augenblicks überwältigt, fest an dem Entschlusse halte, ihr Ansehen und ihre Rechte

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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1893, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1893_10_338.jpg&oldid=- (Version vom 4.5.2023)