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Brucker beruft sich nämlich, um die Angaben seiner drei Zeugen zu stützen, auf den achten Kanon des Reimser Concils, der folgendermassen lautet: „Ne quis monachus vel clericus a suo gradu apostataret“[1]. Brucker übersetzt: „Que nul moine ou clerc ne devienne infidèle à sa profession“, und meint dann: „Il est probable que par le terme d’infidélité ou d’apostasie, euphémisme peut-être personnel à Anselme, cet article entend le Nicolaïtisme“[2]. Diese Auslegung ist aber gewaltsam und rein willkürlich. In dem citirten Kanon wird weiter nichts gesagt als das Eine, dass kein Mönch oder Kleriker von seinem Stande apostasiren solle[3], mit anderen Worten: seinen Stand verlassen solle, wie z. B. Delarc, den doch Brucker hätte zu Rathe ziehen sollen, diese Stelle übersetzt[4], von dem Verbote der Priesterehe oder vom Nicolaïtismus überhaupt ist hier mit keiner Silbe auch nur die Rede, und Brucker’s Bemerkungen über einen Euphemismus Anselm’s u. s. w. kennzeichnen sich zur Genüge als Ergebniss der Verlegenheit Brucker’s, wie er seine Behauptung durch ein zeitgenössisches Zeugniss begründen soll. Brucker setzt schliesslich noch den citirten Kanon in Parallele[5] mit der von dem Diakon Petrus zu Beginn des Concils vorgetragenen Proposition „de monachis et clericis a sancto proposito et habitu recedentibus“[6], aber in dieser Proposition, die dem achten Kanon genau entspricht, steht schliesslieh nichts Anderes als in dem Kanon: sie handelt von den Mönchen und Klerikern, die ihren Stand verlassen und ihre Kleidung – das heisst „habitus“[7], die Uebersetzung Brucker’s „genre de vie“[8] ist zum mindesten ungenau – ablegen[WS 1], vom Nicolaïtismus ist auch hier keine Rede.

Brucker’s Behauptung ist also durch nichts erwiesen. Es muss daher dabei bleiben, dass Leo IX. in Reims thatsächlich von einem Verbote der Priesterehe gänzlich Abstand genommen und somit in diesem Punkte von vorneherein darauf verzichtet hat, mit einem Schlage alles zu erreichen[9]. Für die Beurtheilung des politischen Charakters des Papstes wird sein Verhalten jedenfalls insofern in Betracht zu kommen haben, als es zeigt, dass Leo IX. doch nicht der blinde Eiferer gewesen ist, als den man ihn vielfach hingestellt hat, sondern ein Politiker, der, mit den thatsächlichen Verhältnissen rechnend, sich und der von ihm vertretenen Sache nichts zu vergeben

  1. Siehe Migne a. a. O. 1437.
  2. Siehe Brucker a. a. O. p. 22.
  3. Siehe Hefele, Conciliengesch. IV. (2. Aufl.), p. 731.
  4. Un Pape Alsacien etc. (Paris 1876) p. 213.
  5. Siehe Brucker a. a. O.
  6. Migne a. a. O. p. 1431.
  7. Hefele a. a. O. p. 727.
  8. Brucker a. a. O.
  9. Vgl. hierzu meine Arbeit p. 20.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorvorige Anmerkungsreferenz an dieser Stelle fälschlich wiederholt.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1893, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1893_09_291.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2023)