Seite:De DZfG 1893 09 290.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Zur Französischen Politik Papst Leo’s IX. – I. Hat Leo IX. in Reims 1049 ein Verbot der Priesterehe erlassen? In meiner Arbeit „Die Französische Politik Papst Leo’s IX.“ (Stuttg. 1891) habe ich auf p. 21 die Ansicht aufgestellt und zu begründen gesucht, dass Leo IX., der noch im Frühjahre 1049 auf seiner ersten Römischen Synode die alten Cölibatsgesetze erneuert batte, im October 1049 auf dem Concile zu Reims von einem Verbote der Priesterehe ganz abgesehen und damit für’s Erste auf die Durchführung des Cölibats in Frankreich verzichtet habe. Das gerade Gegentheil nimmt nun aber Brucker im 2. Bande seines Werkes „L’Alsace et l’église au temps du pape Saint Léon IX.“ (Strassburg und Paris 1889) p. 20 f. an, indem er behauptet, dass der Papst doch gegen die verheiratheten Priester eingeschritten sei. Diese Frage ist desshalb von besonderer Bedeutung, weil je nach ihrer Beantwortung die Politik Leo’s IX. in diesem, für die Reform so wichtigen Punkte und damit der politische Charakter Leo’s überhaupt zu beurtheilen sein wird[1].

Die Vorgänge auf dem Reimser Concile sind uns in dem Berichte des gut unterrichteten Zeitgenossen Anselm[2], der Mönch im Kloster St. Rémi zu Reims gewesen ist, überliefert. Man wird daher zunächst und in erster Linie bei ihm anzufragen haben, ob Leo IX. in Reims wirklich die Ehen der Priester verboten habe. Brucker aber zieht Anselm’s Bericht erst in zweiter Linie heran, die erste Stelle in der Befragung der Zeugen räumt er dreien Schriftstellern ein, die alle erst im 12. Jahrhundert geschrieben haben: zweien Biographen Hugo’s von Cluny, Hildebert und Rainald, und dem Ordericus Vitalis[3]. Ihre Angaben laufen im wesentlichen darauf hinaus, dass Leo auch in Reims gegen den Nicolaïtismus eingeschritten sei, aber sie können natürlich nur dann in’s Gewicht fallen, wenn ihre Urheber erwiesenermassen bessere und zuverlässigere Quellen benutzt haben als der Zeitgenosse Anselm oder wenn doch wenigstens ihre Angaben mit denen Anselm’s vereinbar sind. Brucker macht überhaupt keinen Versuch, nachzuweisen, dass die von ihm bevorzugten Schriftsteller besser unterrichtet gewesen seien als Anselm – mit gutem Grunde, denn diesen Nachweis zu erbringen ist unmöglich –, und wenn Brucker annimmt, die Angaben Hildebert’s, Rainald’s und des Ordericus Vitalis seien mit denen Anselm’s vereinbar, so wird eine nähere Prüfung zeigen, dass das gerade Gegentheil zutrifft.

  1. Aus äusseren Gründen habe ich mich in meiner Arbeit a. a. O. nicht mit Brucker auseinandersetzen können (s. meine „Erklärung“ DZG VII, 153), ich versuche daher das Versäumte an dieser Stelle nachzuholen.
  2. Abgedruckt z. B. bei Migne, Patr. lat., T. 142, p. 1415 ff.
  3. Siehe Brucker a. a. O. p. 20 u. 31 f.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1893, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1893_09_290.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2023)