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klare Sachlage gerieth aber Nachmittags etwas in Verwirrung. Dazu trugen verschiedene Umstände bei: vor allem wohl das Gefühl, dem Referenten, nachdem er sachlich so scharfen Widerspruch gefunden hatte, in der Form nicht so schroff begegnen zu dürfen. Einige Redner, Archivar Dr. Winter und Oberlehrer Dr. Klatt, gingen so weit zu behaupten, es seien ja nur scheinbar Gegensätze vorhanden, in der Sache sei man eigentlich einig, und nur in der Form gehe man auseinander, eine Auffassung, die freilich von anderer Seite entschiedenen Widerspruch fand. Immerhin herrschte ein gewisses Vermittlungsbedürfniss vor, das noch genährt wurde durch den allzu schroff formulirten Antrag des Herausgebers dieser Zeitschrift, der Einzelberathung die Thesen der Correferenten zu Grunde zu legen.

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Dieser Stimmung kam ein in der Mittagspause formulirter Antrag Stieve entgegen : „Der Geschichtsunterricht kann und soll nicht in der Weise als Vorbereitung zur Theilnahme an den Aufgaben des öffentlichen Lebens dienen, dass er in systematischer oder auf eine bestimmte Gesinnung hinzielender Weise auf dasselbe vorbereitet, er hat vielmehr zu dem fraglichen Zweck lediglich diejenigen geschichtlichen Kenntnisse zu übermitteln, welche zur späteren Theilnahme am öffentlichen Leben befähigen und die Neigung zu dieser Theilnahme anregen [für »anregen« wurde nachher »entwickeln« gesetzt], und zwar insbesondere durch Erweckung der Vaterlandsliebe und eines strengen Pflichtbewusstseins gegen den Staat.“

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Es ist ja ganz klar, dass dieser Antrag inhaltlich so gut wie ganz den Kaufmann’schen Thesen entspricht, denen die Schlussworte sogar wörtlich entnommen sind; er formulirt das Wesentliche der Kaufmann’schen Thesen nur anders, zunächst negativ und insofern sogar noch schärfer, und mehr in der Form einer directen Antwort auf die gestellte Frage. Trotzdem wurde er ziemlich allgemein als ein Vermittlungsantrag aufgenommen, zum Theil offenbar aus dem äusseren Grunde, weil er eine aus der Verhandlung hervorgegangene neue Formulirung brachte, die nicht der scharfen Debatte des Vormittags zu Grunde gelegen hatte, und weil man das Bedürfniss fühlte, in der Form, wenn auch nur mit Benutzung einer Fiction, dem Referenten, dem man für die Uebernahme des Referats zu Dank verpflichtet war, entgegenzukommen.

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Nun begab sich aber das Merkwürdige, dass Dir. Martens, als seine Thesen zur Abstimmung kommen sollten, sie „zu Gunsten des Stieve’schen Antrags“ zurückzog. Man hat in der Presse diesen Rückzug so deuten wollen, als ob der Referent durch die Debatte im wesentlichen zu den Ansichten seiner Gegner bekehrt worden sei, da ja der Antrag Stieve das genaue Gegentheil der ursprünglichen Martens’schen Thesen besagt. Stieve’s Antrag bestreitet dem G.-Unterricht die Fähigkeit und die Aufgabe in systemat. und in einer auf Erzeugung einer bestimmten Gesinnung hinzielenden Weise für das öffentl. Leben vorzubereiten, während die systemat. Erziehung zu einer bestimmten Gesinnung ja der Grund- und Eckstein der Martens’schen Thesen ist. Logischer Weise wäre also der Martens’sche Rückzug eine Bekehrung, aber thatsächlich war er es gewiss nicht; sondern erklärt wird er einmal durch dieselbe (von Dir. Martens sogar direct ausgesprochene)

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1893, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1893_09_159.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2023)