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und historischem Sinne besitzt. Der historisch gebildete Politiker untersucht, was wirklich ist und gewesen ist, ehe er fragt, wie es sein sollte. In diesem Sinne hat auch Aristoteles seine Arbeit verstanden. Allerdings entwirft er das Bild eines Idealstaates und macht für diesen Voraussetzungen, welchen die Wirklichkeit nur ausnahmsweise entsprechen kann. Aber er unterscheidet genau, was vom Willen des Staatsmannes abhängig ist und was nicht. Und die absolut beste Verfassung zu ersinnen, die nur da bestehen könne, wo keine äusseren Umstände ihr in den Weg treten, hält er nur den für fähig, der zuvor weiss, welche Verfassung unter gegebenen Verhältnissen die relativ beste ist und auf welche Weise sich eine Verfassung entwickeln und erhalten kann[1]. Mehrfach beruft er sich gegenüber idealistischen Theorien auf die Beweiskraft der Thatsachen. So verweist er die archaistischen Schwärmer, welche meinen, eine Bürgerschaft, die auf Tapferkeit halte, dürfe ihre Stadt nicht mit Mauern umgeben, auf die Erfahrung, durch welche diejenigen widerlegt worden seien, die mit ihrer Mauerlosigkeit prahlten[2].

Um die Politik auf das Mass der gegebenen Zustände zurückführen zu können, muss man wissen, auf welchem Wege diese Zustände geworden sind. Und um das zu erkennen, dazu bedarf es einer Kritik der historischen Ueberlieferung. Diese Kritik hat Aristoteles selbstverständlich nicht in der Weise gehandhabt, wie die moderne Wissenschaft es gelernt hat. Die Frage, wie ein Irrthum entstanden sei, haben die Geschichtsforscher des Alterthums, so Grosses sie in anderen Richtungen erreicht haben, niemals aufgeworfen. Sie sind beim Skepticismus, welcher fragt, ob eine Nachricht richtig oder falsch sei, stehen geblieben und nicht fortgeschritten zum Kriticismus, der untersucht, auf welche Weise sich in einer Ueberlieferung objective und subjective Elemente mischen. Daher empfanden die Griechen auch nicht das Bedürfniss, Lügen und Irren durch verschiedene Verba zu bezeichnen. So blieben sie, wo es galt, aus einem sagenhaften Berichte den historischen Kern auszuschälen, auf ein unsicheres Abwägen des Möglichen und Wahrscheinlichen angewiesen. Auch Thukydides hat keinen festen Massstab, um abzumessen, was er von den Erzählungen der Dichter und älteren Historiker glauben

  1. IV, 1288 b.
  2. VII, 1330 b 34.
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_08_015.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2022)