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Bescheidenheit genügte nicht; man musste sich selbst verwerfen. Der Verfasser einer Lebensbeschreibung sagt von sich[1]: „Ich armer, dummer Mensch lege weisen Männern hiermit meine kleinlichen Pläne vor, wie sie mein dürrer und dürstender Geist noch eben hat zusammenreimen können“. Es ist selbstverständlich, dass ein so fehlerhaftes Verständniss gewisser Tugenden zur peinlichsten Selbstbeobachtung, bei schwachen Naturen zur Heuchelei, bei starken zum Irrwerden an sich selbst und zur Verzweiflung führen musste.

Dazu das narkotisirende Hinbringen ganzer Tage und Nächte im Gebet, die Erregung visionärer und traumhafter Zustände durch asketisches Aderlassen, der Duft von Moder und Leichen, den der Reliquiendienst je länger je mehr um sich verbreitete: es war nicht anders möglich, als dass das Seelenleben der Mönche in nervöser Ekstase erbeben musste.

Aber das war eben das Ergebniss, das man ersehnte mit allen Fibern des geistigen Daseins: nervöser Thränenreiz und phantastische Prophezeihungsgabe[2] galten als höchste Gottesgnaden beseeligter Diener Christi: so vermochte Bischof Wazo[WS 1], als er inthronisirt ward, unter grossem Seufzen in Zähren auszubrechen, die ihm nicht geringer wie einem siebenjährigen Knaben unter der Zuchtruthe des Lehrers zu fliessen schienen.

Es war eine Geistesrichtung, die aus der sinnlich-sichtbaren Welt hinausführte in eine übersinnliche, ungekannte, geistige. Und ihrer ward nur theilhaftig, wer der Gnade des Höchsten in asketischem Leben gewürdigt war. Damit ist alles Gewicht auf die Berufung von oben her gelegt; nur als Gnadengabe Gottes erscheint die Geistesarbeit und der hohe Gedankenzug bedeutender Männer. Der Boden der Welt schwindet unter den Füssen, erst mit dem Tode öffnet sich das Thor des Lebens: nicht umsonst entwickelt sich in den Kreisen der Reform eine unendlich fruchtbare Dichtung des Sterbens[3].

  1. Vita Burch. Prol., SS. 4, 831. Der Autor war Wormser Kleriker, aber im geistigen Fahrwasser der Reform. Vgl. Vita Joh. Gorz. Praef. SS. 4, 338, Z. 30.
  2. Vgl. z. B. Vita Chuonr. Const. c. 9.
  3. Nirgends tritt sie ergreifender und würdiger auf als in der Erzählung von Hermanns von Reichenau letzten Tagen, die an Platons Phaidon erinnert. Berthold Prol., SS. 5, 268–9. Aus früherer Zeit vgl. Vita Bald.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Wazo von Lüttich (* um 985; † 1048) war von 1042 bis 1048 Bischof von Lüttich.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_038.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)