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typischen Erfassung der neuen Lehre in der Schlusszeit des Stammeslebens an, bis sie seit dem 12. Jh. abgelöst werden durch die innere Vision sowie die Contemplation und Selbstzucht der Mystik.

Noch Bruder Berhtolt warnt in einer seiner Predigten: wie man nicht in den Glanz der Sonne schauen könne, ohne zu erblinden, so solle man nicht den Geheimnissen des Christenglaubens nachtrachten: wan ez ist den hôhen meistern genuoc[1]. Was hier dem Laien des 13. Jhs. gerathen wird, das war noch allgemeine, nothwendige Lebensforderung im 10. Jh. Das Zeitalter der Ottonen philosophirte noch nicht, am wenigsten religiös; dem glänzend begabten Abt Johann von Gorze machten schon die dialecticae rationes in Augustins Trinitätslehre eitel Bedenken. Die vernunftgemässe Erfassung der christlichen Wahrheiten, zu der man sich seit dem Ende des 11. Jhs. berufen glaubte, liegt dem 10. Jh. auch in Frankreich noch, um wie viel mehr in Deutschland, völlig fern; es herrscht ein greifbarer, unvermittelter Supranaturalismus, der sich den christlichen Wahrheiten durch gläubiges Schauen im Geiste zu nähern sucht. Die philosophische Betrachtungsweise an sich war nicht unbekannt: die Vergangenheit bot sie dar: aber sie wurde abgelehnt. So in der Abendmahlslehre. Hier gilt Wein und Brot als wahrhafter Leib Christi, wie der Lehm, woraus Adam gebildet, im Menschen wahrhaftige Leibessubstanz geworden: im eucharistischen Genusse wird eine völlig reale Vereinigung des Menschen mit Gott erzielt.

Soweit sich aber das nationale Denken an die christlichen Geheimnisse tastend wagte, durchdrang es sie mit dem altüberlieferten, süssen Schauer symbolischer Vorstellungen. Und diese blieben sogar noch in den äusserlichsten Beziehungen der Lehre stecken: so errichtet Otloh von Emmeram[WS 1] in seinem Liber de tribus quaestionibus ein ganzes Gebäude mystisch-biblischer Zahlentheorie, indem er in Dreiheit und Einheit die heilige Urharmonie erblickt, darin alles Seiende sich gründet, durchlebt und auflöst[2].

Verhängnissvoll musste eine solche Geistesrichtung namentlich für die von der Kirche theilweise noch nicht näher definirten Vorstellungen vom Himmel und seinen Freuden, von der Hölle und vom Fegefeuer sein, um so mehr, als der Germanische Geist

  1. Bertholt 1, c. 52; 53.
  2. Vgl. auch Vita Uodalr. c. 9, dessen Inhalt die weite Verbreitung der Symbolik beweist.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Otloh von Emmeram (* um 1010 in der Diözese Freising; † 23. November kurz nach 1070 in Regensburg) war ein geistlicher Schriftsteller.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_030.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)