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Wie anders allgemein, wenn auch noch durchaus sinnlich, stellen sich dürstende Seelen schon des 10. Jhs. die Seligkeiten vor, die Gott uns im Himmel verheissen. Da giebt es nicht die Last schleichenden Greisenalters, nicht Krankheit noch Schmerz; schön, wie der Herr Christ in seiner Jahre Vollendung[1], werden alle Leiber dauern ohne Zunahme noch Abnahme: nie wird die Zahl der Gerechten gemindert sein, nicht mehr werden sie in Furcht leben vor den Listen des Teufels[2].

Schon aus den bisherigen Mittheilungen geht hervor, dass den Deutschen dieses Zeitalters jede verstandesgemässe Aufnahme der Heilsthatsachen in Bewusstsein und Gemüth völlig ferne lag; erkämpfen im Sinne altgermanischen Kraftmenschenthums wollten sie die Seeligkeit, unmittelbar, in rückhaltsloser Hingabe an den Christengott den Teufel überwinden aus Kraft der Gnade und göttlichen Erleuchtung: die Grundanlage ihres Verhaltens zum Christenthum ist mystisch.

Nirgends wohl lernt man die Seelenkämpfe, welche diese religiöse Haltung für den Deutschen des 9. bis 11. Jhs. mit sich brachte, besser kennen, als in der Selbstbiographie Otlohs, jenes müden Heiligen, der in unstäter Weltflucht von Kloster zu Kloster zog, bis er seine Tage zu St. Emmeram in Regensburg gottselig beschloss. Wie oft kommen ihm nicht furchtbare Zweifel, wenn er kämpfend und wachend die Kluft nicht zu überbrücken vermag, die zwischen dem gemeinen Lauf des Lebens und den hohen Forderungen Christi gähnt. Aber nie sind diese Zweifel metaphysisch oder dogmatisch substanziirt, noch weniger hilft sich Otloh etwa über sie hinweg auf dem Wege rationeller Klärung. Nur um so heftiger ringt er in Glauben, Kasteiung und knirschender Busse: da findet er in innerer Erleuchtung die Ruhe des christlichen Gewissens – sie wird ihm gewährt durch ein höheres Wort, durch eine innere, völlig concret gedachte Stimme. Indem er so von oben her, durch supranaturalistische, aber durchaus real empfundene Hilfe sich kämpfend täglich hindurchrettet zum Frieden der Kinder Gottes, entwickelt er aus sich heraus immer neu die Möglichkeit festen Wunderglaubens und nie rastender Askese.

Wunderglauben und Askese sind die bezeichnendsten Aeusserungen des ersten Deutschen Christenthums, sie gehören der

  1. Vgl. Lamprecht, Deutsche Geschichte Bd. I S. 356.
  2. Vita Uodalr. c. 9, SS. 4, 397–8
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_029.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)