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Epik des 8. bis 11. Jhs. zugleich ein Zug fürs Sinnige, Lyrische, ja Sentimentale in unserer Nation entwickelt wird. Sehen wir davon ab, dass sich bei Otfried[WS 1] (um 870) die ersten lyrischen Empfindungen in Deutscher Sprache vorgetragen finden – es sind vielleicht nur resignirte Reflexionen der Klosterzelle. Aber auch die Art wie Dichter des 10. Jhs. die Pracht der aufgehenden Sonne, die stillen Schauer der Morgenröthe, die beseligende Ruhe des Abends zu schildern wissen, wenn auch für uns erkennbar nur im fremden Gewand Lateinischer Sprache, sie deutet auf einen Umschlag, eine neue Wendung der nationalen Stimmung. Doch hat sich der neue Sinn zunächst nicht auf dichterischem Gebiete geoffenbart; mit aller Inbrunst, mit sentimentaler Innigkeit und schliesslich weltflüchtiger Askese umfasste er vielmehr den bisher nur exoterisch begriffenen Geist des Christenthums und wirkte sich aus in einem ersten Zeitalter Deutscher Frömmigkeit.


V.

Die Kirche des ausgehenden Imperiums war den Deutschen Stämmen mehr gewesen als eine blosse Anstalt zur Befriedigung religiöser Bedürfnisse: beim Verfall des Reiches war in sie alle höhere geistige Thätigkeit, alles noch zukunftsfrohe Gefühl alter Cultur geflüchtet: sie war Ersatz des untergehenden Staates. Aber neben dem Römischen Element der staatlichen Auffassung barg sie in sich nach der Art ihres Entstehens zugleich ein orientalisches Grundelement und die dauernden Errungenschaften der speculativen Begabung der Hellenen; sie war das einzige Gefäss der weltgeschichtlichen Ueberlieferung überhaupt.

So sollte das Deutsche Volk mit der Kirche nicht bloss das Christenthum aufnehmen in aller Inbrunst des Glaubens und Demuth der Erkenntniss: es sollte sich auch erfüllen mit den geläutersten Reliquien alles grossen nationalen Denkens und Schaffens, das in den Jahrtausenden vor den Zeiten seiner weltgeschichtlichen Mission geblüht und Früchte getragen.

Es war eine ungeheure Zumuthung an die jugendliche Spannkraft des Germanischen Geistes; Jahrhunderte hindurch hat unser Volk von und in dieser Aufgabe gelebt; die Fieberschauer unserer mittelalterlichen politischen Geschichte, Investiturstreit und Staufische Schicksale, sind vornehmlich durch die Schwierigkeiten veranlasst, welche die Aufnahme christlicher und weltgeschichtlicher Ideen der Volksseele verursachte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Otfrid von Weißenburg (* um 790; † 875) ist der erste namentlich bekannte althochdeutsche Dichter.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_026.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)