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und zu Wimpfen am Berge, einen hohen Grad heiterer Grazie empfing, bis sie mit dem Eintritt der Gothik allmählich erstarb und eine mehr naturalistische Behandlung der Thierwelt einsetzte. Doch dauerte es auch dann noch viele Generationen, ehe das Thierstudium jenen fast völligen Naturalismus erreichte, der uns etwa aus dem Kaninchen Dürers[WS 1] in der Albertina entgegenleuchtet.

Und längst vorher schon hatten sich die Romanen in der gewaltigen Stimme Bernhards von Clairvaux[WS 2] gegen das Deutsche Thiergefasel in den Kirchen, gegen die lächerliche Ungeheuerlichkeit, gegen die deformis formositas und die formosa deformitas dieses letzten Aufflackerns urgermanischer Kunst ausgesprochen – nicht minder, wie sie um gleiche Zeit die Kraft unserer alten Heldenlieder mit den Süssigkeiten ihrer romanhaften Epik zu durchsetzen begannen. Doch hatte auch der Germanische Heldensang der frühen Stammeszeit inzwischen eine Entwicklung durchlebt, welche die Wandlungen der Ornamentik in fast völlig ebenmässigem und innerlich verwandtem, ja im Grunde identischem Fortgang begleitet.

Wie die Thierornamentik der Frühzeit des Stammeslebens gegen das 9. Jh. verfiel, so neigte sich um diese Zeit das erste grosse Zeitalter unseres Heldensanges seinem Ende zu[1]. Doch ähnlich, wie auf dem Gebiete der bildenden Kunst die ornamentale Disposition im Allgemeinen erhalten blieb, nur in Ausstrahlung auf eine andere weniger actuelle Aussenwelt, auf das Pflanzliche, so erhielt sich auf demselben typischen Untergrunde des Geisteslebens auch die epische Disposition: doch wandte auch sie sich vom Actuellen in des Wortes strengster Bedeutung, vom Heldenhaften, von den grossen Schicksalen der Nation und deren Trägern ab und nahm einen Zug an auf’s zuständlich Ruhigere, auf die Episoden innerhalb des geschichtlich-nationalen Verlaufes. Diese Neigung ward durch das Absterben des alten Götterglaubens noch besonders gefördert: denn nun verbot sich von selbst ein Ueberschlagen des wild Heroischen in’s Mythische, wie es eines der wesentlichsten Mittel grosser Wirkung im alten Heldensange gewesen war.

Bereits unter Karl dem Grossen beginnt die neue epische Kunst zu blühen, und eins ihrer ältesten Zeugnisse schon, das freilich erst mit den Mitteln der modernen Wissenschaft wiederhergestellt

  1. S. Lamprecht, Deutsche Geschichte Bd. I, S. 338 ff.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Albrecht Dürer (1471–1528), deutscher Maler und Graphiker.
  2. Der heilige Bernhard von Clairvaux (* um 1090 auf Burg Fontaine-lès-Dijon bei Dijon; † 20. August 1153 in Clairvaux bei Troyes) war ein mittelalterlicher Abt, Kreuzzugsprediger und Mystiker.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_022.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)