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mehrte sich zusehends die Lust am Fabuliren. Die apokryphen Evangelien gewinnen an Einfluss, bald stehen sie in kaum minderem Ansehen, als die kanonischen Schriften. Die Thaten des Aeneas, der ganze Inhalt des Vergilischen Epos[WS 1] erscheint den zahlreichen Lesern der Ottonenzeit nicht als Sage, sondern als Geschichte; das fromme Heldenpathos des Römischen Stammvaters entfernte sich ja nicht allzuweit von der Demuth der biblischen Heiligen, und Wunder geschahen in heidnischer wie christlicher, in alter wie neuer Legende.

So fand sich, auf der Grundlage nur rein typischer nationaler Verständnisskraft, doch befruchtet vom Christenglauben und classischer Tradition, allmählich eine Neigung fürs Wunderbare, ein Heisshunger nach Abenteuern ein, denen die Nation noch Jahrhunderte lang schlimme wie gute Stunden verdankt hat.

Noch geringer, wie der Sinn für das Aeussere des Geschehens, war das Verständniss für das innere Gewebe fremder Charaktere entwickelt. Hatten sich früher alle Vorstellungen der Nation auf diesem Gebiete in die Ausgestaltung der grossen typischen Personen der Heldensage ergossen, so reichte die christliche Kirche späterhin in der massiven Ethik der Missionszeit, im Gegensatz namentlich von Böse und Gut, dem nationalen Verständniss ein nur zu einfaches Schema dar. Bald entwickelte sich weitverbreitet der Glaube, jeder Mensch sei von einem guten und schlechten Engel umgeben, der eine vom Herrn gesandt, der das Gute lehrt, der andere emporgestiegen aus dem schwarzen Abgrund der Hölle, mahnend zum Bösen. Sie streiten um des Menschen Herz, das passiv und inhaltslos leidet als Schlachtfeld innerer Kämpfe: nur Gottes Gnade, ein dritter, fremder Factor, hilft zu Sieg und Gelingen. Diese und verwandte Vorstellungen ersticken jedes tiefere Verständniss zeitgenössischer Charaktere, sie beherrschen mehr oder minder alle Biographien der Zeit, die freilich überhaupt nur als Erzeugnisse der Pietät, gleichsam als Ersatz für die unterdrückten feierlichen Todtenlieder der Heidenzeit gelten können, nicht als geschichtliche Kunstwerke geistig freier Empfängniss. Ja noch mehr: diese Vorstellungen beherrschen und typisiren die zeitgenössische Geschichtsschreibung überhaupt; selbst einer Hrotsuit von Gandersheim, die allein in diesem Zeitalter sich auf die Belebung von Personen im Drama verstand, erscheinen die Schicksale des Ottonischen Hauses als Offenbarungen bald himmlischer, bald höllischer Eingebung; und Gott und Satan

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Publius Vergilius Maro (* 15. Oktober 70 v. Chr. bei Mantua; † 21. September 19 v. Chr. in Brindisi) war ein lateinischer Dichter und Epiker.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_018.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)