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sociale Beruf des Königthums als einer wirksamen Vertretung der durch Capitalisten- oder Pöbelherrschaft gefährdeten Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit von Seiten Plato’s und Aristoteles’ entwickelt worden ist[1].

Es ist daher durchaus consequent, wenn Grote für den Geschichtschreiber Griechenlands keine höhere Aufgabe kennt, als die Darstellung des individualistischen Principes und seiner Verwirklichung in der Hellenischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Sein manchesterliches Glaubensbekenntniss verschliesst ihm vollkommen den Blick für die gerade in der Griechischen Geschichte so klar zu Tage tretende Thatsache, dass die blosse Entfesselung der productiven Kräfte, die nackte Freiheit allein keine Bürgschaft für eine gesunde Entwicklung gewährt, sondern den Concurrenzkampf nur immer ungleicher und erbitterter gestaltet. Die an sich ja wohlberechtigte Sympathie für „die Freiheit des individuellen Denkens und Handelns“ (liberty of individual thought and action, liberty and diversity of individual life) lässt bei Grote nirgends den Gedanken aufkommen, dass diese Freiheit, wenn sie sich zu einer solchen Emanzipation der Gesellschaft vom Staate steigert, wie in Hellas, in sich selbst wieder ein freiheits- und culturfeindliches Moment erzeugt: die Herrschaft der Gesellschaft über den Staat. Er hat daher auch keine Ahnung davon, dass die für die letzte Entwicklungsphase des Hellenischen Staatslebens so verhängnissvollen Folgen dieser Allmacht der Gesellschaft, insbesondere die Entfesselung des socialen Kampfes, mit innerer Nothwendigkeit zu einer Reaction führen mussten, welche von Neuem eine starke Regierungsgewalt und zwar in der schlimmen Form der Militärdictatur ins Leben rief. Das, was Grote zur Erklärung der „jüngeren Tyrannis“ anführt, lässt gerade diesen ausschlaggebenden socialpolitischen Gesichtspunkt vollkommen bei Seite.

Bezeichnend für die Anschauungsweise, welche der Grote’schen Geschichtsauffassung zu Grunde liegt, ist die Ausführlichkeit, mit der er die Verdienste der Athenischen Demokratie um die Befreiung des Geldgeschäftes von Zins- und Wucherbeschränkungen, um die Heilighaltung der Schuldverträge und des Privateigenthums

  1. Vgl. die Ausführung über die Stellung der Hellenen zur Monarchie, Hist. of Gr. Bd. III p. 7 ff., bes. p. 12.
Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_020.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)