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der Gesellschaft, das Zusammenschwinden des Mittelstandes und die Entwicklung der Geldmacht auf der einen, des Proletariats auf der anderen Seite, die gegenseitige Entfremdung der verschiedenen Gesellschaftsschichten durch Classenneid und Classenhass, das Heraustreten dieser Classengegensätze aus der socialen Sphäre in das staatliche Gebiet und das Ringen derselben um den Besitz der Staatsgewalt, wodurch der politische Kampf zum Classenkampf zwischen Arm und Reich, zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden entartete. – Statt diese Erscheinungen zu verfolgen, feiert Grote die „Stabilität der Demokratie“ und die „Einigkeit in der Demokratie“ ohne Rücksicht darauf, dass in Folge der angedeuteten Entwicklung sich ein ebenso unversöhnlicher Gegensatz zwischen dem wohlhabenden Bürgerthum und dem Proletariate herausbildete, wie zwischen der oligarchischen Plutokratie und dem freiheitlich gesinnten Mittelstand, dass neben der alten politischen Demokratie eine sociale Demokratie erwuchs, deren Umsturztendenzen der Volksfreiheit selbst das Grab bereiten halfen.

Es ist, als ob für Grote jene grosse seit den Zeiten des peloponnesischen Krieges stetig wachsende Masse gar nicht vorhanden wäre, deren Lage wie ein Hohn auf das Princip der Freiheit und Gleichheit erscheint, eine Classe, die sich eines Gegensatzes nicht bloss gegenüber „wenigen Reichen“, sondern mehr und mehr auch gegenüber allen denen bewusst wurde, welche durch Besitz und sociale Unabhängigkeit wirklich „frei“ waren. Dieser Widerspruch innerhalb der demokratischen Gesellschaft selbst machte sich natürlich minder fühlbar in einer Zeit, in der die Unterschiede des Vermögens noch geringer waren und der mittlere und kleine landwirthschaftliche Besitz der grossen Masse der Bevölkerung eine ausreichende wirthschaftliche Existenz gewährte. Allein er ist dann nur um so furchtbarer zu Tage getreten, je rascher und intensiver sich diese Verhältnisse mit dem zunehmenden Uebergewicht capitalistischer Tendenzen geändert haben. – Als das Capital sich der meisten Erwerbszweige, besonders des Grundbesitzes immer ausschliesslicher zu bemächtigen wusste, als das selbständige bäuerliche Eigenthum zusammenschmolz und der Bauer zum Proletarier wurde, als auch in den städtischen Nahrungszweigen durch die Entwicklung des Grossbetriebes und der Sklavenconcurrenz die Abhängigkeit und Hoffnungslosigkeit

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_009.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)