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die logische Consequenz der Grote’schen Theorie von der Homogenität der demokratischen community darstellt, aber desswegen nicht weniger unhistorisch ist.

Diese ganze Auffassung der Demokratie bei Grote ist eben eine reine Abstraction, ein Erzeugniss des Optimismus, den er mit den philosophischen Radicalen seiner Zeit überhaupt gemein hat, sowie ihrer Unfähigkeit, die socialen Factoren und Kräfte richtig zu beurtheilen. Wenn die durch die Demokratie geschaffene Harmonie des öffentlichen Lebens nur durch das kleine Häuflein verbissener Oligarchen gestört wurde, wie kommt es dann, dass seit dem Ende des 5. Jahrhunderts sich in der öffentlichen Meinung von Hellas eine so starke antidemokratische Strömung fühlbar macht, die sich mitunter bis zu einem förmlichen „Hass gegen Agora und Rednerbühne“ steigerte?[1] Wie erklärt sich bei Grote’s Auffassung das Urtheil des Xenophontischen Sokrates über die Volksversammlung, den „unwissenden und ohnmächtigen Haufen von Walkern, Schustern, Zimmerleuten, Schmieden, Bauern, Händlern und Krämern, Leuten, die nie über Politik nachgedacht haben“?[2] Haben etwa nur engherzige Oligarchen so empfunden, oder ist nicht vielmehr dieses Urtheil der Ausdruck eines tiefgehenden Gegensatzes innerhalb des Bürgerthums selbst, den der Widerspruch des absoluten Majoritätsprincips und der Souveränität des Demos mit den höheren staatlichen Interessen unvermeidlich zur Folge hatte?

Doch dafür hat die Grote’sche Geschichtschreibung ebensowenig ein Auge, wie für die weitere Thatsache, dass im Schoosse der demokratischen community selbst – unter den Bedingungen des antiken Güterlebens – die schlimmsten Gegensätze emporwuchern mussten. Grote übersieht gerade das, was bei der geschichtlichen Beurtheilung dieser Fragen in erster Linie stehen sollte: Die unter der Einwirkung der Sklavenwirthschaft auf die Lage der erwerbenden freien Arbeit sich vollziehende Zersetzung

    with the general body of the citizens, so they never appeared to pronounce unjustly, nor lost the confidence of their fellow-citizens generally.

  1. Vgl. die bezeichnende Bemerkung in Plutarch’s Timoleon c. 22 über die Syrakusaner: φρίκη καὶ μῖσος εἶχε πάντας ἀγορᾶς καὶ πολιτείας καὶ βήματος κτλ.
  2. Xenophon. Memorab. III, 7.
Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_008.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)