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des Volkes gerichtet, deren Ziele weit über das Mass dessen hinausgehen, was durch die blosse „Erhaltung“ des Staates gefordert wäre. Es ist doch keineswegs so unlogisch gedacht, wie Schäfer meint, wenn Macaulay die Politik für eine Wissenschaft erklärt, deren Gegenstand das menschliche Glück sei. Gerade der letzte und höchste Massstab, den wir an den Staat als das Hauptorgan der Cultur anlegen müssen, ist durch die Frage gegeben, was er an seinem Theile für die gemeinsame Arbeit der Menschheit an ihrer Vervollkommnung zu leisten vermocht hat.

In höherem Grade als das Moment der Macht kommen daher die Ideen in Betracht, welche sich durch den Staat – mit Hilfe seiner Machtmittel – Geltung zu verschaffen suchen. Vor Allem wird derjenige, der die Entwicklung und das Wesen des geschichtlichen Staates verstehen will, die Frage beantworten müssen, inwieweit durch denselben die Staatsidee selbst ihre Verwirklichung gefunden hat oder nicht. Und seine Untersuchung wird sich dabei nur zu oft weniger mit der Gewalt des Staates, als vielmehr mit der Macht desjenigen menschheitlichen Organismus zu beschäftigen haben, mit dem die Staatsordnung so enge verwachsen ist, dass seine Gestaltung und die Bedingungen seiner Macht auch von dem politischen Geschichtschreiber mit derselben Aufmerksamkeit verfolgt werden müssen, wie die des Staates selbst.

Dieser Organismus ist die Gesellschaft. Die Gesellschaft als die Vertreterin der Sonderinteressen der Individuen und Classen, als die Verkörperung der mit der Vertheilung des Besitzes und der Ordnung des Erwerbes nothwendig gegebenen Ungleichheit und Unfreiheit steht in einem beständigen Widerspruch und Kampf mit der Idee des Staates, als des natürlichen Vertreters des Gesammtinteresses, der Freiheit und Gleichheit. Das Princip des Staates bedeutet die Erhebung aller Einzelnen zur Freiheit und zu einem möglichst hohen Grade persönlicher Entwicklung, das Princip der Gesellschaft dagegen ist die Unterwerfung der Einzelnen unter die Einzelnen, die Vollendung der Persönlichkeit des Individuums durch die Abhängigkeit und das Zurückbleiben der Anderen. In diesem Antagonismus zwischen Staat und Gesellschaft, in welchem diese letztere beständig die Tendenz zeigt, den Staat und seine Machtmittel von sich abhängig

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_002.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)