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andere undenkbar. Wir können einmal ohne unser Werthurtheil in der Geschichte nicht operiren – selbst das massive Gefüge roher Geschichtstabellen durchdringt sein Hauch –, wir können es nicht streichen und die Idee der Entwicklung an seine Stelle setzen. Wohl aber können wir es dieser Idee bewusst unterordnen. Und das eben muss unser praktisches Ziel bleiben. Mit anderen Worten: Was wir erstreben und von uns und anderen verlangen, ist einzig, dass aller geschichtlichen Werthbeurtheilung vorangehe der redliche Versuch, einer jeden historischen Erscheinung ihren Platz im Entwicklungszusammenhang anzuweisen, Verhältnisse und Menschen genetisch zu begreifen. Dann erst mag das Urtheil in seine Rechte treten, für das wir auf diese Weise eine sichere Norm gefunden haben. Und eben, je mehr jener Versuch gelungen ist, desto weniger einseitig wird sich das Urtheil den historischen Ereignissen aufdrängen, desto besonnener und stichhaltiger wird es – eine reife Frucht vom Baume der Erkenntniss – sich aus dem Zusammenhange der Dinge selbst ergeben: es wird nicht aufgehoben oder verdrängt, sondern gereinigt, geläutert und vertieft werden.

Ich glaube, damit ist dann auch der wichtigen pädagogischen Aufgabe der Geschichte, die neben ihrer wissenschaftlichen Aufgabe einhergeht, genug gethan. Die Menschen der Gegenwart werden sich nie das Recht nehmen lassen, über die geschichtliche Vergangenheit zu urtheilen, wie es das Recht der Zukunft sein wird, die Summe zu ziehen aus den Bestrebungen und Leistungen unseres Zeitalters. Die grosse praktische Aufgabe des Historikers aber ist es, dieses Urtheil in richtige Bahnen zu lenken. So wenig er sich derselben entziehen kann, ohne sich an seiner Nation, ja an der allgemeinen Bildung der Menschheit zu versündigen, so wenig kann er dabei des Werthurtheils entrathen, ohne welches die Geschichte dem populären Bewusstsein arm und leer erscheinen würde. Aber auch hier wird er sich stets bewusst bleiben, dass dem historischen Werthurtheil das genetische Begreifen und Verstehen voranzugehen habe.

Und von diesem Standpunkt aus schlichtet sich auch meines Erachtens der alte Streit über die Objectivität des Historikers von selbst. Genetische Betrachtung und historische Objectivität sind fast synonyme Begriffe: beide im höchsten Sinne unerreichbar, aber in praktischer Beschränkung auf das Erreichbare das

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_02_035.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)