Seite:De DZfG 1889 02 033.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Aber wollen wir uns denn nun des historischen Werthurtheils gänzlich begeben? Wollen wir nur Thatsachen verzeichnen, Entwicklungsreihen anschaulich machen, aber uns geflissentlich bemühen, unser eigenes Urtheil über all diese Dinge zu unterdrücken? Leugnen wir es nicht: – die Consequenz der genetischen Geschichtsbetrachtung führt dahin. Aber es wäre eine verhängnissvolle Selbsttäuschung, auch nur zu glauben, dass wir dazu im Stande wären. Unser Urtheil beeinflusst unsere Auffassung auf Schritt und Tritt. Es ist nie anders gewesen und wird nie anders sein, so lange denkende und fühlende Menschen Geschichte schreiben. Wir würden eine schlechte Lehre aus den Geschichtsschreibern ziehen, welche uns als Quellen dienen, wenn wir uns von jenem Gesetze ausgenommen wähnten, welches lehrt, dass jede historische Thatsache, indem sie durch das Medium des Erzählers hindurchgeht, eine Brechung und Färbung erleidet, vergleichbar jener, welche die Strahlen des Lichtes im Prisma erfahren. So gewiss wir im 19. Jahrhundert leben und nicht im 11. und 12., so gewiss wir auf dem Boden dieses deutschen Staates stehen, dessen Aufrichtung wir erlebt haben, so gewiss ist es, dass wir mit all unserem Denken, unserem Urtheilen und Fühlen verwachsen sind mit den mächtigen Factoren, welche die uns umgebende Welt bestimmen. Es liegt nicht in unserer Macht, uns über uns selbst hinauszuheben, und wenn wir Geschichte schreiben, so können wir uns von den Meinungen und Vorurtheilen nicht loslösen, welche uns unbewusst beherrschen, ja die uns in gewissem Sinne „das Leben gaben“. Diesem Gesetze sind wir alle unterworfen und auch unsere grössten Geschichtsschreiber von heute gehen unrettbar einer Zeit entgegen, welche sie bei aller Würdigung ihrer geistigen Bedeutung in erster Linie doch als Material betrachten wird für eine Geschichte der historischen Anschauungen ihres Zeitalters[1].

Hier also liegt die Schranke unserer genetisch-historischen Betrachtungsweise. Unser Ziel: die von aller subjectiven Beimischung losgelöste Darstellung reiner Entwicklung ist ein Ideal so unerreichbar in der Wirklichkeit der Dinge, wie je eines.

  1. Diesen Gedanken führt sehr lichtvoll aus ein Wort von Pattison, angeführt bei E. A. Freeman, Methods of historical study (1886) S. 266. Vergl. auch S. 295.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_02_033.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2022)