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Und auch da, wo uns statt dürftiger Umrisse die ursprünglichen Farben des Gemäldes in voller Frische erhalten sind, wo ein günstiges Geschick die gleichzeitige Berichterstattung vor dem Untergang bewahrt hat, ist es wieder die genetische Methode der historischen Kritik, welche auf den überkommenen Stoff Anwendung findet. Die Fragen: in welcher Stellung befand sich der Chronist? konnte er die Wahrheit erfahren? wollte er sie mittheilen? inwiefern war sein Gesichtskreis landschaftlich beschränkt oder durch Parteirücksichten beeinflusst? welche Dinge berichtet er als Augenzeuge? wo stützt er sich auf die Aussagen anderer, etwa auf eine schon ausgeschmückte mündliche Tradition? wo haben ihm Briefe und Actenstücke vorgelegen und sind zum Theil wörtlich von ihm herübergenommen? und was sich sonst noch alles an kritischen Einzelfragen erheben kann, – es fasst sich schliesslich zusammen in die eine Hauptfrage nach der Genesis des überlieferten historischen Stoffes.

Gerade die Erkenntnis, dass wir es immer nur, auch in der besten und ursprünglichsten Ueberlieferung, mit Auffassungen von den Dingen, nicht mit den Dingen selbst zu thun haben, nöthigt uns, den Standpunkt des Schriftstellers kennen zu lernen und die Medien, durch die er sah. Zu diesem Zwecke lösen wir sein Werk kritisch auf, versuchen uns dessen Entstehung nach Zeit, Ort und Umständen zu erklären, seine Missverständnisse und seine Vorurtheile, sein Pragma und seine Tendenz zu begreifen und fühlen uns dann erst im Stande, seine Nachrichten für den kritischen Aufbau der Geschichte zu verwerthen. Dieses ganze Verfahren ist rein genetisch, getragen von dem Gedanken des organischen Werdens.

Die Ueberlieferung erscheint hier nicht mehr als etwas schlechthin Gegebenes, das man entweder gläubig hinnehmen oder skeptisch verwerfen kann, sondern als eine historische Erscheinung so gut wie jede andere, die aus dem Gesichtspunkt der Entwicklung verstanden sein will. Eine reiche Literatur auf allen Gebieten der historischen Forschung dient diesem Zwecke, und die Wissenschaft darf sich diese mühsame Detailarbeit nicht verdriessen lassen. Denn eben die genetische Quellenkritik ist es, welche unsere moderne Geschichtsforschung von der geschichtlichen Arbeit vergangener Jahrhunderte

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_02_031.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)