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ausgeschmückten oder durch falsche Bezüge und Reflexionen entstellten Erzählung eines Jahrhunderte später lebenden Historikers, der in die Darstellung der Vergangenheit die Ideen seiner Zeit hineintrug, löste sich der ursprüngliche und zeitgenössische Kern einer knappen und trockenen annalistischen Berichterstattung los. Man erkannte und schied die mannigfachen Epochen der Ueberlieferung, die, wie die Formationen der Erdrinde, bald reinlich in Schichten geordnet übereinanderliegen, bald im buntesten Wirrsal gemischt sind, und indem man den Process rückwärts verfolgte und überall bis auf die älteste Form, das Urgestein der Ueberlieferung, zu dringen versuchte, ergab sich die Aufgabe, die versprengten Theile der einzelnen Ueberlieferungsepochen zu sammeln und voneinander zu scheiden, um so das Bild der ursprünglichen Tradition, soweit es noch erreichbar, wiederherzustellen.

Mit bewundernswerthem Scharfsinn ist Niebuhr auf diesem Wege vorangeschritten, ohne sich viel um Vorgänger und Hilfsmittel zu kümmern. „Ich hatte das Ziel erreicht“, sagte er selbst später, „wie ein Nachtwandler, der auf der Zinne schreitet“[1]. Was er lieferte, war darum auch nicht so sehr – und konnte es damals noch nicht sein – eine Geschichte Roms im gewöhnlichen Sinne, als vielmehr eine Geschichte der römischen Tradition, und schon Goethe hob ganz richtig hervor, dass der Titel eigentlich hätte lauten sollen: „Kritik der Schriftsteller, welche uns die römische Geschichte überlieferten“[2]. „Wir müssen uns bemühen“, so bezeichnet der Autor selbst in der Vorrede des ersten Theiles seine Aufgabe[3], „Gedicht und Verfälschung zu scheiden und den Blick anstrengen, um die Züge der Wahrheit befreit von jenen Uebertünchungen zu erkennen“. Die Grundsätze aber, nach denen diese Sonderung vorzunehmen ist, entwickelt er im zweiten Theile[4] so: „Für echt kann in der älteren Geschichte Roms nur der kürzeste Begriff der Vorfälle selbst gelten, jede Ausführlichkeit ist

  1. Bd. I (2. Aufl. 1826), Vorrede S. X.
  2. Br. an Niebuhr vom 23. Nov. 1812. (Lebensnachrichten über B. G. Niebuhr III, 362.)
  3. S. IX.
  4. Vorr. S. V.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_02_029.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2022)