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So war mit dem Begriff auch das Gebiet der Geschichte unendlich erweitert und eine Fülle neuer Aufgaben gestellt. Herder selbst hat einige von ihnen ausdrücklich bezeichnet, so die Geschichte der römischen Rechtsgelehrsamkeit[1] und die Geschichte der deutschen Sprache[2], und wie viele andere hat der Fortgang der Wissenschaft zu Tage gefördert von der vergleichenden Sprachwissenschaft an und der durch Ritter mit historischem Geiste getränkten Geographie bis herab auf jene dem populären Bewusstsein so geläufige, den historischen Fachmännern so ominöse Culturgeschichte, die Zusammenfassung alles Wissens von Natur und Menschheit in der Form der Entwicklung. Ja gibt es überhaupt ein Gebiet wissenschaftlicher Forschung, welches nicht durch den geschichtlichen Gedanken dauernd befruchtet und innerlich vertieft worden wäre? Ihn sehen wir heute siegreich nicht bloss im Mittelpunkte des gesammten Geisteslebens stehen, wir dürfen auch sagen, dass er die Entwicklung unserer staatlichen und politischen Verhältnisse im neunzehnten Jahrhundert gelenkt hat.

Was ist der nationale Gedanke, die Triebkraft aller politischen Bildungen des Zeitalters, anders als ein Zweig neben anderen an dem Baume der genetischen Denkweise Herder’s und Goethe’s? Ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur wie eine Familie, heisst es in den Ideen, der natürlichste Staat ist ein Volk mit einem Nationalcharakter[3]: er ruht auf sich selbst, denn er ist von der Natur begründet und steht und fällt nur mit den Zeiten, ein zusammengezwungenes Reich ist ein Ungeheuer, kein Staatskörper[4]. Es ist gewiss keine Uebertreibung zu sagen, dass hier die Wurzeln unserer modernen Auffassung vom nationalen Staat liegen. Freilich Herder und Goethe waren desshalb keine Patrioten in unserem Sinne, und für uns Deutsche war es noch ein langer Weg durch Krieg und nationales Elend hindurch, ehe die philosophische Erkenntniss Einzelner das dunkle Gefühl der breiten Schichten des Volkes durchdrang und sich in politische Thaten umsetzte. Denn die grossen Ereignisse und Wandlungen der Völkergeschichte werden vorwiegend durch sittliche

  1. XIV, 5.
  2. IX, 2.
  3. IX, 4.
  4. XII, 2.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_02_023.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2022)