Seite:De DZfG 1889 02 020.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Unterschied zwischen den Epochen und beurtheilte alles mit demselben absoluten Massstab der Verstandeskritik, ebenso wie er in der Dramaturgie die Regeln des Aristoteles einfach auf das moderne Drama der Engländer und Franzosen übertrug.

Auf um so fruchtbareren Boden fiel der neue Gedanke bei der jüngeren Generation, der Herder und Goethe angehörten. Mit Enthusiasmus nahm man ihn auf und durchtränkte sich mit jener genetischen Denkweise, die hier zum erstenmal an einem historischen Stoffe erprobt ward.

Ja man ging weiter. Goethe, den seine ganze Richtung mehr auf die Natur als auf die Geschichte hinführte, that den bedeutungsvollen Schritt, den Begriff der Entwicklung in die Naturbetrachtung hineinzutragen. Sowohl sein Aufsatz über den Zwischenknochen (1784) wie die Metamorphose der Pflanzen (1790) sind getragen von der Idee der Stammverwandtschaft, der Einheit und Continuität aller Lebewesen. So ist er der Anfänger und Bahnbrecher einer Richtung geworden, welche in unserem Jahrhundert die Naturwissenschaft vollkommen beherrscht, wenn anders man Anfänger und Bahnbrecher denjenigen nennen darf, der den methodischen Grundgedanken einer neuen wissenschaftlichen Richtung zuerst aufgestellt hat, mögen im Uebrigen seine sachlichen Ergebnisse längst überholt sein oder die Consequenzen, welche Spätere ziehen, weit über den Kreis seiner eigenen Ideen hinausgreifen.

Das Evangelium aber der neuen Lehre der Entwicklung hat Herder in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ niedergelegt, deren erster Band im Jahre 1784 erschien[1]. Hier ward der bei so beschränkten Mitteln fast verwegene Versuch gemacht, die gesammte Schöpfung aus sich heraus als Ganzes zu begreifen, als eine unermessliche, durch die Reihen aller lebendigen Erdwesen hinaufsteigende organische Kette, als den sprossenden Baum des Lebens, der vom pflanzenartigen zum weissen Saft der Thiere, sodann zum rötheren Blut und endlich zur vollkommeneren Wärme organischer Wesen aufsteigt[2]. „Das Resultat der Reize wird Trieb, das Resultat der Empfindungen Gedanke: ein ewiger Fortgang von organischer Schöpfung, der

  1. Ich citire nach Buch und Capitel, da eine im allgemeinen Gebrauch befindliche Ausgabe nicht existirt, die Suphan’sche noch nicht vollendet ist.
  2. Ideen, Buch III, Cap. 1.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_02_020.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2022)